Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
ein bisschen Zeit mit dir.«
Miles ergriff zuerst ihre eine, dann die andere Hand und drehte sie herum, um sie genauer zu betrachten. »Wie viel schwere Arbeit diese Finger schon in so jungen Jahren verrichten mussten. Mary … Mary …« In seiner Stimme schwang ungewohnte Fürsorge mit. »Wenn du klug bist, heiratest du Percy. Er ist die beste Partie in Texas und verrückt nach dir. Aber wahrscheinlich bist du nicht klug, jedenfalls nicht in solchen Dingen. Eine clevere Frau weiß, was am Ende zählt. Was nützt schon eine gute Ernte, wenn du nach einem harten Arbeitstag nicht zu einem geliebten Menschen heimkommen kannst? Nein, du wirst auf dein Pflanzerherz hören, das behauptet, du könntest Percy und Somerset haben. Doch das geht nicht, Mary. Sein Stolz erlaubt das nicht.«
Sie entwand ihm die roten, rauen Hände und schob sie mit verlegenem Gesicht in die Taschen ihres Rocks. »Warum muss ich etwas opfern? Wieso kann nicht Percy verzichten?«
Miles verzog den Mund. »Weil er auch dumm ist. Aber ich bin es nicht. Deshalb kehre ich zu Marietta zurück.« Er wandte sich von ihr ab und entfernte sich, wie nach jeder ihrer Auseinandersetzungen seit der Verlesung des Testaments. An der Tür bat er sie über die Schulter gewandt: »Sag den Jungs, wenn du zu den Warwicks gehst, dass ich nicht komme. Das patriotische Trara vom Bürgermeister ist mir zuwider.«
FÜNFZEHN
M ary blieb, todmüde und sehr, sehr traurig, im Salon, noch lange, nachdem Miles gegangen war. Sie fragte sich, was ihr Vater sagen würde, wenn er ihre Familie jetzt sehen könnte: gespalten, ohne Hoffnung auf eine Wiederannäherung … weil seine Frau und sein Sohn die Bedeutung von Somerset für die Erhaltung des Erbes nicht erkannten.
Miles hatte Mary nichts Näheres über Ollies Verletzung verraten, vielleicht, weil sie gar nicht mehr darüber erfahren wollte. Aus dem gleichen Grund beschloss sie, sich am Abend nicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit Percy einzulassen. Obwohl sie sich im Moment nichts sehnlicher wünschte, als sich in seine Arme zu flüchten. Doch Miles hatte recht. Percys Stolz würde verhindern, dass er eine Frau heiratete, die Dienerin zweier Herren war. Und in ihrer Erschöpfung würde sie sich möglicherweise nicht gegen ihn wehren können, wenn sie allein mit ihm wäre. Sie würde den Warwicks kurzfristig einen Korb geben, mit der Begründung, dass Miles nicht in der Verfassung für die Feier sei und sie alle früh ins Bett gehen wollten. Lucy wäre sicher froh über ihre Absage. Percys Reaktion stellte sie sich lieber nicht vor.
Am Abend drang der Lärm der Feier in der Stadtmitte gedämpft in ihr Schlafzimmer – Musik, lautes Hupen und der Krach eines Feuerwerks. Sie tappte im Nachthemd hinunter in den Salon, um auf das Geräusch der heimkehrenden Automobile zu warten. Um elf Uhr hörte sie nacheinander drei Wagen die Houston Avenue heraufkommen. Als sie durch die
dünnen Vorhänge spähte, sah sie Abels Cadillac und wenig später den Packard. Wieder ein paar Minuten darauf näherte sich ein Auto dem Haus der Tolivers und hielt vor der Veranda. Marys Herz begann wie wild zu pochen.
Sie schaute durchs vordere Fenster hinaus und lauschte. Schon bald hörte sie das Klimpern von Schlüsseln und das leise Knirschen von Schritten auf Herbstlaub, dann trat Percy aus der Dunkelheit ins Licht des Oktobermondes, das seinen wohlgeformten Kopf und die breiten Schultern in seinem neuen dunklen Anzug, die Manschettenknöpfe, die Armbanduhr – der letzte Schrei in Sachen Herrenaccessoires – und seine auf Hochglanz polierten, maßgefertigten Schuhe erstrahlen ließ. Er sah aus wie ein Prinz, der der Hütte einer armen Familie einen Besuch abstattete.
Als er die Veranda erreicht hatte, rief er verwirrt »Was?« aus und hastete die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, herauf. Oben riss er den Zettel weg, den sie an der Tür befestigt hatte. Mary beobachtete, wie er sich unter die Verandalampe stellte, um ihn zu lesen. Danach trat er einen Schritt zurück und starrte, eine Faust gegen den Mund gepresst, entgeistert das Fenster an, hinter dem sie stand. »Verdammt, Mary! Wie kannst du mir das antun?«, fragte er mit vor Wut und Enttäuschung heiserer Stimme. »Du weißt ganz genau, wie lange ich darauf gewartet habe, dich zu sehen. Du hast versprochen, mir diese Bitte nicht abzuschlagen. Verflucht!« Er zerknüllte den Zettel und marschierte zum Fenster. »Mary, komm raus. Ich weiß, dass du da drin bist.
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