Die Erbin
unter Anwälten eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Danach war es einem Anwalt verboten, mit dem vorsitzenden Richter über problematische Aspekte eines anhängigen Verfahrens zu sprechen, wenn kein Anwalt der Gegenseite zugegen war. Gegen diese Bestimmung wurde in schöner Regelmäßigkeit verstoßen. Es war völlig normal, solche Gespräche zu führen, vor allem im Richterzimmer von Reuben V. Atlee, allerdings nur mit einigen wenigen An wälten, denen er vertraute.
Jake hatte die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass alles, was im Richterzimmer gesagt wurde, auch dort blieb und im Gerichtssaal keinerlei Bedeutung hatte. Dort, wo es zählte, ging Richter Atlee streng nach den Buchstaben des Gesetzes vor, egal, wie oft er sich unter vier Augen mit einem unterhalten hatte.
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Richter Atlee hatte mit seiner Vermutung richtiggelegen: Wenn der alte Seth Mäuschen hätte spielen können, hätte er sich in der Tat fürchterlich aufgeregt. Am Montagmorgen kamen ganze neun Anwälte im Gerichtssaal zusammen, um offiziell mit der Offenlegung in dem Fall zu beginnen, der in der Prozessliste inzwischen als In der Sache Nachlass des Henry Seth Hubbard geführt wurde. Anders ausgedrückt, neun Anwälte wetzten die Messer, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen.
Außer Jake waren anwesend: Wade Lanier und Lester Chilcott aus Jackson, die Ramona Dafoe vertraten. Stillman Rush und Sam Larkin aus Tupelo, die Herschel Hubbard vertraten. Lanier drängte Ian immer noch dazu, Ramona dazu zu drängen, Herschel dazu zu drängen, die Anwälte aus Tupelo zu feuern und sich von ihm vertreten zu lassen. Bis jetzt hatte das aber nur dazu geführt, dass die Spannungen innerhalb der Familie noch größer geworden waren. Lanier kündigte an, alles hinzuwerfen, wenn die beiden Verbündeten sich nicht zusammentaten, doch seine Drohungen verpufften allmählich. Ian vermutete, dass einfach zu viel Geld im Topf war und deshalb keiner der Anwälte einen Rückzieher machen wollte. Herschels Kinder wurden von Zack Zeitler vertreten, einem Anwalt aus Mem phis, der auch eine Zulassung in Mississippi hatte. Er wurde von einem völlig nutzlosen Kollegen begleitet, dessen Aufgabe einzig und allein darin bestand, einen Stuhl zu besetzen, pausenlos in seinem Notizbuch herumzukritzeln und den Eindruck zu erwecken, Zeitler hätte eine große Kanzlei. Ramonas Kinder wur den von Joe Bradley Hunt aus Jackson vertreten, unterstützt von einem Kollegen, der in die gleiche Kategorie fiel wie der Zeitlers. Ancil, der fünf Prozent erben sollte, wurde immer noch für tot gehalten und daher weder von einem Anwalt vertreten noch erwähnt.
Portia war eine von drei Anwaltsassistenten im Gerichtssaal. Wade Lanier und Stillman Rush hatten die beiden anderen mitgebracht, beide weiß, beide männlich wie alle anderen Anwesenden, bis auf die weiße Gerichtsstenografin und natürlich Portia. »Der Gerichtssaal gehört den Steuerzahlern«, hatte Jake zu Portia gesagt. »Also tun Sie bitte so, als ob er Ihnen gehört.« Sie gab sich alle Mühe, war aber trotzdem nervös. Sie hatte mit Anspannung gerechnet, vielleicht auch barschen Worten und einer von Konkurrenzkampf und Misstrauen durchdrungenen Atmosphäre. Doch jetzt sah sie eine Horde Weißer vor sich, die sich gegenseitig die Hand schüttelten, freundlich gemeinte Beleidigungen austauschten, Witze rissen, lachten und sich großartig amüsierten, während sie Kaffee tranken und darauf warteten, dass es neun Uhr wurde. Falls einer von ihnen nervös war, weil er gerade im Begriff stand, den Kampf um ein Vermögen zu beginnen, ließ er sich nichts anmerken.
»Es geht nur um Zeugenaussagen«, hatte Jake erklärt. »Sie werden sich zu Tode langweilen. Tod durch Zeugenaussage.«
In der Mitte des Gerichtssaals, zwischen der Schranke und der Richterbank, hatte man die Tische zusammengestellt und Stühle herangeschoben. Die Anwälte suchten sich langsam ihre Plätze, allerdings gab es keine feste Sitzordnung. Da Lettie die erste Zeugin sein würde, setzte sich Jake in die Nähe des leeren Stuhls an einem Ende des Tisches. Am anderen Ende war die Gerichtsstenografin gerade dabei, eine Videokamera aufzustellen, als eine Angestellte mit einer Kanne Kaffee hereinkam und sie auf den Tisch stellte.
Als alle saßen und es sich einigermaßen bequem gemacht hatten, nickte Jake Portia zu, die eine Seitentür öffnete und ihre Mutter hereinholte. Lettie trug ihr bestes Kleid und sah großartig aus, obwohl Jake ihr gesagt hatte, dass sie
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