Die Erbin
Für ein paar Stunden wollte er einfach nur den Moment genießen.
Es wäre schön gewesen, wenn Marvis auch da gewesen wäre.
Lettie rückte zwei Tische im Esszimmer zusammen. Dann stellten die Frauen gebratene Truthähne, Schinken, Süßkartof feln, ein halbes Dutzend andere Gemüsesorten und Aufläufe und eine beeindruckende Anzahl von Kuchen und Torten darauf. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich alle gesetzt hatten, und als es ruhig wurde, sprach Lettie ein kurzes Dankgebet. Doch sie hatten noch mehr zu sagen. Sie faltete ein aus einem Notizblock gerissenes Blatt Papier auseinander. »Hört zu, das hat Marvis geschrieben«, bat sie die anderen.
Beim Klang dieses Namens erstarrten alle und ließen die Köpfe noch ein Stück tiefer sinken. Jeder hatte seine eigenen Erinnerungen an das älteste Kind der Familie, und die meisten davon waren herzzerreißend und unangenehm.
Lettie las vor: »Hallo Mom und Dad, Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen, Onkel und Tanten, Cousins und Freunde. Ich wünsche euch allen frohe Weihnachten und hoffe, dass ihr zusammen feiert. Ich schreibe das in meiner Zelle, nachts. Von hier kann ich ein Stück vom Himmel sehen, und heute scheint der Mond nicht, aber dafür gibt es eine Menge Sterne. Einer davon ist unglaublich hell, ich glaube, es ist der Polarstern, aber sicher bin ich mir nicht. Jedenfalls tue ich gerade so, als wäre es der Stern von Bethlehem, der die Heiligen drei Könige zum Jesuskind führt. Matthäus, Kapitel zwei. Ich liebe euch alle. Ich wünschte, ich könnte jetzt bei euch sein. Ich bereue meine Fehler, und es tut mir so leid, dass ich meiner Familie und meinen Freunden Kummer gemacht habe. Irgendwann lassen sie mich hier raus, und wenn ich frei bin, werde ich Weihnachten auch da sein und mit euch zusammen feiern. Marvis.«
Letties Stimme blieb fest, aber ihr liefen Tränen über die Wangen. Sie wischte sie weg und zwang sich zu einem Lächeln. »Lasst uns essen«, sagte sie.
Da es ein besonderer Anlass war, bestand Hanna darauf, bei ihren Eltern im Bett zu schlafen. Sie lasen bis weit nach zweiundzwanzig Uhr Weihnachtsgeschichten, mit mindestens einer Pause jede halbe Stunde, damit Hanna ins Wohnzimmer flitzen und sich vergewissern konnte, dass der Weihnachtsmann sich nicht doch irgendwie ins Haus geschlichen hatte. Vor lauter Vorfreude plapperte und zappelte sie herum, bis sie irgendwann nicht mehr konnte und ihr die Augen zufielen. Als Jake bei Sonnenaufgang aufwachte, lag sie eingeklemmt unter ihrer Mutter da, und beide schliefen tief und fest.
Doch als er leise »Ich glaube, der Weihnachtsmann war hier« sagte, waren seine Frauen auf einen Schlag wach. Hanna rannte zum Baum und kreischte vor Begeisterung, als sie die vielen Geschenke sah, die der Weihnachtsmann für sie gebracht hatte. Jake kochte Kaffee, während Carla Fotos machte. Sie packten Geschenke aus und lachten mit Hanna zusammen, während der Stapel aus Papier und Kartons immer größer wurde. Was konnte es Schöneres geben, als am Weihnachtsmorgen sieben Jahre alt zu sein? Nachdem sich die Aufregung seiner Tochter ein wenig gelegt hatte, schlich sich Jake aus dem Haus. Aus einem kleinen Hauswirtschaftsraum neben dem Carport holte er noch ein Paket, einen großen, quadratischen Karton, der in grünes Papier eingewickelt und mit einer großen roten Schleife verziert war. Das Winseln eines Hundewelpen drang zu ihm heraus. Es war eine lange Nacht gewesen, für sie beide.
»Sieh mal, was ich gefunden habe«, verkündete er, als er den Karton neben Hanna auf den Boden stellte.
»Was ist das, Daddy?« Hanna ahnte sofort etwas. Der ver ängstigte Welpe im Innern des Kartons gab keinen Laut von sich.
»Mach es auf«, sagte Carla. Hanna riss das Papier von dem Karton herunter. Jake klappte den Deckel auf, und Hanna warf einen Blick hinein. Sadie starrte sie mit traurigen, müden Augen an, die »Hol mich hier raus« zu sagen schienen.
Sie taten so, als hätte der Weihnachtsmann Sadie gebracht. In Wirklichkeit kam sie aus dem Tierheim des County, wo Jake sie für siebenunddreißig Dollar gekauft hatte, einschließlich sämtlicher Impfungen und als Zugabe eine Sterilisation zu gegebener Zeit. Da völlig unklar war, was für einen Stammbaum sie besaß, konnten die Mitarbeiter im Tierheim nur spekulieren, als es um ihre Größe und ihren Charakter ging. Einer fand, sie hätte »ziemlich viel Terrier drin«, während ein anderer wider sprach und sagte: »Da muss irgendwo ein Schnauzer dabei sein.«
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