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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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um zwölf Uhr mittags fast bis auf den letzten Platz besetzt. Claude, in einer blitzsauberen weißen Schürze, kümmerte sich um die Gäste, während seine Schwes ter die Küche unter sich hatte. Speisekarten gab es nicht. Manch mal wurden die Tagesgerichte auf eine Tafel geschrieben, aber meistens aß man das, was die Schwester gerade kochte. Claude servierte das Essen, wies den Gästen ihre Plätze zu, stand an der Kasse, setzte mehr Gerüchte in die Welt, als ihm zu Ohren kamen – er führte das Restaurant, und das mit harter Hand. Als Charley und die Damen sich setzten und Eistee bestellten, wusste Claude bereits, dass sie alle miteinander verwandt waren. Er verdrehte die Augen; war zurzeit nicht jeder mit Lettie verwandt?
    Fünfzehn Minuten später schlenderten Jake und Lucien herein, als wären sie ganz zufällig vorbeigekommen. Das waren sie nicht. Portia hatte Lucien dreißig Minuten zuvor angerufen und gewarnt. Es bestehe eine gute Chance, dass Charley eine Ver bindung zur Vergangenheit sei, dass er etwas über das Geheimnis der Familie Rinds wisse, und sie denke, Lucien wolle ihn vielleicht treffen. Die Männer wurden einander vorgestellt, dann setzte Claude die beiden Weißen an einen eigenen Tisch in der Nähe der Küche.
    Bei Schweinekoteletts und Kartoffelbrei fuhr Charley fort, die grandiosen Vorzüge der Bestattungsbranche in »einer Stadt von fünf Millionen« zu betonen, doch die Frauen verloren allmählich das Interesse. Er sei verheiratet gewesen, inzwischen jedoch geschieden; zwei Kinder, die bei der Mutter lebten. Er sei aufs College gegangen. Während sie das Essen genossen, zogen sie ihm langsam die Details dazu aus der Nase. Als der Kokosnusskuchen kam, ignorierten sie ihn und zogen über einen Diakon her, der mit der Frau eines anderen durchgebrannt war.
    Am späten Nachmittag fuhr Portia zu Luciens Haus, zum ersten Mal. Das Wetter war plötzlich kalt und windig geworden, die Veranda kam nicht infrage. Sie war neugierig darauf, Sallie kennenzulernen, eine Frau, die man nur selten in der Stadt sah, die aber trotzdem jeder kannte. Ihre Wohnverhältnisse wurden sowohl in den weißen als auch in den schwarzen Vierteln der Stadt heftig missbilligt, was aber weder Sallie noch Lucien etwas auszumachen schien. Wie Portia sehr schnell festgestellt hatte, gab es eigentlich nichts, was Lucien etwas ausmachte, zumindest nichts, was mit den Gedanken und Meinungen anderer Leute zu tun hatte. Er konnte sich fürchterlich über Unrecht oder Geschichte oder die Probleme der ganzen Welt aufregen, aber was die anderen von ihm hielten, war ihm herzlich egal.
    Sallie war etwa zehn Jahre älter als Portia. Sie war nicht in Clanton aufgewachsen, und niemand wusste so genau, wo ihre Familie herstammte. Portia lernte eine höfliche, liebens würdige Frau kennen, der eine andere Schwarze im Haus anscheinend überhaupt nichts ausmachte. Lucien hatte in seinem Arbeitszimmer Feuer im Kamin gemacht, und Sallie servierte ihnen dort heißen Kakao. Lucien kippte Kognak in seine Tasse, Portia lehnte ab. Der Gedanke, Alkohol in ein derartiges Trostgetränk zu schütten, schien geradezu grotesk zu sein, aber ihr war schon lange klar, dass es für Lucien kein Getränk gab, das sich nicht mit einem oder zwei Schuss Schnaps verbessern ließ.
    Mit Sallie im Raum, die hin und wieder eine Anmerkung machte, verbrachten sie eine Stunde damit, den Stammbaum der Familie zu aktualisieren. Portia hatte sich notiert, was Charley gesagt hatte: Wichtiges wie Namen und Daten, Überflüssiges wie Todesfälle und das Verschwinden von Leuten, die nicht mit ihnen verwandt waren. In der Gegend von Chicago gab es mehrere Zweige der Familie Rinds, dazu einen in Gary. Charley hatte einen entfernten Cousin namens Boaz erwähnt, der in der Nähe von Birmingham lebte, aber er hatte keine Kontaktdaten. Außerdem hatte er von einem Cousin gesprochen, der nach Texas gezogen war. Und so weiter und so fort.
    Während Portia in dem schönen, alten Haus – einem Haus mit Geschichte – vor dem Kaminfeuer saß, Kakao trank, der von jemand anders zubereitet worden war, und sich mit Lucien Wilbanks unterhielt, konnte sie es mitunter kaum glauben. Sie war ihm gleichgestellt. Sie musste sich ständig daran erinnern, aber es stimmte, denn Lucien behandelte sie wie seinesgleichen. Es konnte durchaus sein, dass es Zeitverschwendung war, in der Vergangenheit herumzuwühlen, aber es war eine faszinierende Suche. Lucien war besessen von dem Puzzle. Er war fest davon

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