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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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irgendeinem Versager, dessen Mutter Jakes Lehrerin in der vierten Klasse gewesen war oder dessen Onkel seinen Vater gekannt hatte, zu der völlig mittellosen Witwe aus seiner Kirchengemeinde, die sich einen Anwalt nicht leisten konnte, aber einen brauchte. Aus diesen Fällen wurden dann ohne Ausnahme »Fischakten«, die immer übler stanken, je länger sie unberührt in einer Ecke lagen. Jeder Anwalt hatte solche Akten. Jeder Anwalt hasste sie. Jeder Anwalt schwor sich, dass er nie wieder so einen Fall annehmen würde. Man konnte sie fast riechen, wenn der Mandant zum ersten Mal zur Tür hereinkam.
    Freiheit für Jake wäre eine Kanzlei, in der es keine Fischakten gab. Trotzdem begann er jedes neue Jahr mit dem Vorsatz, Nein zu den Versagern zu sagen. »Man wächst nicht mit den Fällen, die man annimmt, sondern mit den Fällen, die man nicht annimmt«, hatte Lucien vor Jahren erklärt. Man musste nur Nein sagen. Und doch war die Schublade für die Fischakten voll, und jeden Freitagnachmittag starrte er sie an und verfluchte sich.
    Ohne zu klopfen, kam Portia in sein Büro. Sie war offensichtlich völlig außer Fassung und klopfte sich auf den Brustkorb, als könnte sie nicht atmen. »Unten steht ein Mann«, sagte sie fast flüsternd, weil sie nicht lauter sprechen konnte.
    »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Jake, während er eine Fischakte zur Seite legte.
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Es ist Mr. Roston. Der Vater der Jungen.«
    »Was?« Jake sprang auf.
    Sie klopfte sich weiter auf den Brustkorb. »Er will mit Ihnen reden.«
    »Warum?«
    »Jake, sagen Sie ihm bitte nicht, wer ich bin.« Sie starrten sich eine Sekunde an. Keiner der beiden hatte eine Ahnung, worum es ging.
    »Okay, okay. Bringen Sie ihn in den Konferenzraum. Ich bin gleich unten.«
    Jeff Roston war nicht viel älter als Jake, aber unter diesen Umständen ein sehr alter Mann. Er saß mit gefalteten Händen und hängenden Schultern da, als würde eine gewaltige Last auf ihm ruhen. Mit der gebügelten Khakihose und dem marineblauen Blazer sah er eher aus wie ein Collegestudent und nicht wie ein Mann, der Sojabohnen anbaute. Sein Gesichtsausdruck war der eines Vaters, der sich gerade mitten in einem unsäg lichen Albtraum befand. Er stand auf, und sie gaben sich zur Begrüßung die Hand. »Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Roston.«
    »Danke. Sagen Sie bitte Jeff zu mir, ja?«
    »Gern. Und ich bin Jake.« Er nahm neben ihm an einer Seite des Konferenztisches Platz. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie gerade durchmachen«, sagte Jake nach einer verlegenen Pause.
    »Nein, können Sie nicht«, erwiderte Jeff leise und langsam, und die tiefe Trauer war aus jedem seiner Worte herauszuhören. »Ich kann es auch nicht. Ich glaube, zurzeit schlafwandeln wir irgendwie, wir tun alles völlig mechanisch, versuchen, eine Stunde zu überleben, damit wir mit der nächsten fertigwerden können. Wir beten um Zeit. Wir beten darum, dass aus den Tagen Wochen und dann Monate werden, und vielleicht wird dieser Albtraum irgendwann in ein paar Jahren einmal vorbei sein, damit wir mit unserer Trauer zurechtkommen. Aber gleichzeitig wissen wir, dass es nie so weit sein wird. Man sollte seine Kinder nicht beerdigen müssen, Jake. Das ist wider die Natur.«
    Jake nickte nur, unfähig, etwas zu sagen, was intelligent, wohl überlegt oder irgendwie tröstlich geklungen hätte. Was sagte man einem Vater, dessen zwei Söhne in Särgen lagen und auf ihre Beerdigung warteten? »Ich kann es mir nicht einmal im Ansatz vorstellen«, erwiderte er. Seine erste Reaktion war »Was will er?« gewesen, und jetzt, Minuten später, fragte er sich das immer noch. »Morgen ist die Beerdigung«, sagte er nach einer langen, bedeutungsschweren Pause.
    »Ja. Noch ein Albtraum.« Jeffs müde Augen waren rot gerändert, der Beweis dafür, dass er seit Tagen nicht geschlafen hatte. Er konnte Jake nicht direkt ansehen und starrte stattdessen die ganze Zeit auf seine Knie. Dann legte er alle zehn Finger aneinander, als wäre er tief in Meditation versunken. »Wir haben einen sehr schönen Brief von Lettie Lang bekommen«, fuhr er schließlich fort. »Er wurde von Sheriff Walls persönlich ge bracht, der, wie ich sagen muss, ganz großartig gewesen ist. Er erwähnte, dass Sie Freunde sind.« Jake nickte, hörte zu und sagte kein Wort. Jeff sprach weiter: »Der Brief kam von Herzen und drückte aus, dass die Familie mit uns trauert und sich schuldig fühlt. Er bedeutet Evelyn und mir

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