Die Erbin
weiter.
Simeon streckte sich auf dem unteren Stockbett aus und fing wieder mit Seite eins an. In zwanzig Jahren würde er sechsundsechzig sein. Lettie würde einen anderen Mann und ein erheblich besseres Leben haben. Sie würde die Kinder und Enkel und vermutlich auch Urenkel haben. Und er würde nichts haben.
Er würde der Scheidung zustimmen. Sie sollte alles haben.
Vielleicht konnte er im Gefängnis Marvis besuchen.
32
Acht Tage nach der Tragödie mit den Rostons, gerade, als sich alles wieder ein wenig beruhigt hatte und die Leute über etwas anderes sprachen, stand sie plötzlich wieder im Mittelpunkt, in der wöchentlichen Ausgabe der The Ford County Times. Auf der Titelseite, unter einer fetten Schlagzeile – COUNTY TRAUERT UM ROSTON-BRÜDER – waren großformatige Klassenfotos von Kyle und Bo abgedruckt. Darunter und unterhalb des Knicks waren Fotos des Autowracks, der Särge, die aus der Kirche getragen wurden, und der Klassenkameraden, die mit Kerzen in den Händen eine Mahnwache vor der Clanton High School abhielten. Dumas Lee war nur wenig entgangen. Seine Artikel waren lang und ausführlich.
Auf der zweiten Seite war ein großes Foto von Simeon Lang abgedruckt, wie er mit dick verbundenem Gesicht und in Handschellen letzten Donnerstag das Gerichtsgebäude verlassen hatte, in Begleitung seines Anwalts, Mr. Arthur Welch aus Clarksdale. In dem Artikel zum Foto wurde Jake Brigance mit keinem Wort erwähnt, was hauptsächlich daran lag, dass er Dumas und der Zeitung mit einer Verleumdungsklage gedroht hatte, falls auch nur im Entferntesten angedeutet werde, dass er Simeon vertrete. Die alte, aber immer noch anhängige Anklage wegen Trunkenheit am Steuer vom Oktober letzten Jahres wurde zwar erwähnt, doch Dumas ging nicht weiter darauf ein und unterstellte auch nicht, dass sie unsachgemäß bearbeitet worden sei. Er hatte große Angst vor einem Prozess und machte in der Regel immer sofort einen Rückzieher. Die beiden Nachrufe waren lang und herzzerreißend. Außerdem gab es einen Artikel über die Highschool mit überschwänglichen Kommentaren von Klassenkameraden und Lehrern. Und einen über die Unfallstelle mit Details, die von Ozzie stammten. Der Augenzeuge hatte eine Menge zu sagen und bekam auf diese Weise sein Foto in die Zeitung. Die Eltern schwiegen. Ein Onkel hatte darum gebeten, seine Privatsphäre zu respektieren.
Um sieben Uhr hatte Jake jedes Wort gelesen und fühlte sich müde und ausgelaugt. Den üblichen Besuch im Coffee Shop ließ er ausfallen, weil er das endlose Gerede über die Tragödie leid war. Um 7.30 Uhr gab er Carla einen Kuss, ging ins Büro und hoffte, zu seinem normalen Tagesablauf zurückkehren zu können. Er hatte sich vorgenommen, die meiste Zeit an anderen Fällen als Hubbard zu arbeiten, da er eine Handvoll Mandanten hatte, die dringend seiner Aufmerksamkeit bedurften.
Kurz nach acht Uhr rief Stillman Rush an und erzählte ihm, dass Herschel Hubbard ihn gerade gefeuert habe. Jake hörte nachdenklich zu. Einerseits war er froh, dass Stillman einen Tritt in den Hintern bekommen hatte, weil er den Kerl wirklich nicht leiden konnte, andererseits machte er sich Sorgen wegen Wade Laniers Talent, andere zu manipulieren. In seinem einzigen anderen großen Prozess, dem gegen Carl Lee Hailey, hatte Jake sich mit Rufus Buckley angelegt, der damals ein erfahrener Bezirksstaatsanwalt gewesen war. Buckley war zwar sehr gewandt im Gerichtssaal und konnte schnell reagieren, aber er war nicht sonderlich intelligent, kein ausgefuchster Strippenzieher oder cleverer Intrigant. Ganz anders als Wade Lanier, der immer einen Schritt voraus zu sein schien. Jake war fest davon überzeugt, dass Lanier alles tun würde, dass er lügen, betrügen, stehlen, vertuschen würde, um den Prozess zu gewinnen, wofür er auch die Erfahrung, die schnelle Auffassungsgabe und die schmut zigen Tricks besaß. Er hätte lieber Stillman im Gerichtssaal gehabt, der alles vermasselte und sich vor den Geschworenen aufspielte.
Jake klang angemessen traurig darüber, sich von Stillman verabschieden zu müssen, hatte den Anruf nach einer Stunde aber schon wieder vergessen.
Portia brauchte moralische Unterstützung. Sie hatten sich angewöhnt, gegen 8.30 Uhr einen Kaffee zusammen zu trin ken, immer in Jakes Büro. In den Tagen nach dem Unfall hatte Letties Familie vier Drohanrufe bekommen, aber inzwischen hatte das aufgehört. Ozzie hatte immer noch einen seiner Deputys abgestellt, der mit dem Streifenwagen in
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