Die Erbin
die Bar.
Es war entweder die fünfte oder sechste Nacht in diesem feuchten, dunklen Zimmer mit Fenstern, die sich nicht öffnen ließen und während des Tages das Licht aussperrten. Die Krankenschwestern kamen und gingen. Manchmal klopften sie leise an die Tür, bevor sie sie öffneten, manchmal tauchten sie ganz plötzlich an seinem Bett auf, ohne ein Geräusch, das ihn warnte. In seinen Armen waren Schläuche, über seinem Kopf Monitore. Man hatte ihm gesagt, dass er nicht sterben werde, doch nach fünf oder sechs Tagen und Nächten fast ohne Essen, dafür mit jeder Menge Medikamenten und zu vielen Ärzten und Krankenschwestern hätte er absolut nichts gegen ein längeres Blackout einzuwenden gehabt. Sein Kopf hämmerte vor Schmer zen, sein Rücken bekam Krämpfe vom Liegen, und manchmal hätte er sich am liebsten alle Schläuche herausgerissen und wäre aus dem Zimmer geflüchtet. Eine Digitaluhr zeigte die Zeit an: 23:10.
Konnte er überhaupt verschwinden? Würde man ihm erlauben, das Krankenhaus zu verlassen? Oder standen ein paar Polizisten vor seiner Tür, um ihn wegzubringen? Niemand wollte es ihm sagen. Er hatte mehrere der freundlicheren Krankenschwestern gefragt, ob draußen jemand warte, aber die Antworten waren alle unklar gewesen. Vieles war unklar. Manchmal konnte er das Fernsehbild erkennen, manchmal verschwamm es vor seinen Augen. Manchmal hörte er ein lautes Klingeln in seinen Ohren, das ihn undeutlich sprechen ließ. Die Ärzte sagten, da sei nichts. Nachts waren ständig Schatten im Raum, Beobachter, die sich in sein Zimmer schlichen. Vielleicht waren es Studenten, die nach echten Patienten suchten, vielleicht nur Schatten, die es gar nicht gab. Seine Medikamente wurden häu fig gewechselt, um herauszufinden, wie er darauf reagierte. Diese Tablette ist gegen die Schmerzen. Die hier gegen das verschwom mene Sehen. Die hier gegen die Schatten. Die hier verdünnt das Blut. Die hier ist ein Antibiotikum. Dutzende von Tabletten, jede Stunde, Tag und Nacht.
Er nickte wieder ein. Als er aufwachte, war es 23.17 Uhr. Es war stockdunkel im Zimmer, das einzige Licht ein roter Nebel, der von einem Monitor über seinem Kopf kam, einem, den er nicht sehen konnte.
Leise wurde die Tür geöffnet, doch aus dem dunklen Flur drang kein Licht herein. Es war keine Schwester. Ein Mann, ein Fremder, stellte sich an sein Bett: lange graue Haare, schwarzes T-Shirt, ein alter Mann, den er noch nie gesehen hatte. Die funkelnden Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, und als er sich vorbeugte, schlug Lonny der Geruch nach Whiskey entgegen.
»Ancil, was geschah mit Sylvester Rinds?«, fragte er.
Lonny blieb fast das Herz stehen, während er den Fremden, der ihm behutsam eine Hand auf die Schulter legte, entsetzt anstarrte. Der Whiskeygeruch wurde stärker. »Ancil, was geschah mit Sylvester Rinds?«, wiederholte er.
Lonny versuchte zu sprechen, doch er brachte keinen Ton heraus. Er blinzelte, um besser sehen zu können, aber er sah schon gut genug. Die Worte waren deutlich zu verstehen und der Akzent unmissverständlich. Der Fremde kam aus dem tiefen Süden.
»Was?«, flüsterte Lonny. Es war fast ein Keuchen.
»Was geschah mit Sylvester Rinds?«, fragte der Fremde noch einmal, während sein laserscharfer Blick auf Lonny lag.
An seinem Bett gab es einen Knopf, mit dem man eine Kran kenschwester rufen konnte. Lonny drückte ihn hastig. Der Frem de zog sich zurück, wurde wieder zum Schatten, dann verschwand er aus dem Zimmer.
Schließlich kam eine Krankenschwester. Sie war eine von denen, die er nicht ausstehen konnte, und hatte es nicht gern, wenn man ihr Arbeit machte. Lonny wollte reden, wollte ihr von dem Fremden erzählen, aber sie würde ihm sowieso nicht zuhören. Sie fragte, was er wolle, und er sagte, er könne nicht schlafen. Sie versprach, später noch einmal nach ihm zu sehen, das gleiche Versprechen wie immer.
Er lag da, im Dunkeln, und hatte Angst. Weil ihn jemand bei seinem richtigen Namen genannt hatte? Weil seine Vergangenheit ihn eingeholt hatte? Oder hatte er Angst, weil er nicht genau wusste, ob er den Fremden tatsächlich gesehen und gehört hatte? Verlor er den Verstand? War der Gehirnschaden nicht mehr rückgängig zu machen?
Lonny fielen die Augen zu, er dämmerte weg und kam wieder zu sich. Dann schlief er erneut für einen Moment oder zwei, bevor er an Sylvester dachte.
37
Um fünf Minuten nach sieben am Samstagmorgen kam Jake in den Coffee Shop, und wie immer verstummte
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