Die Erbin
Vordergrund gestellt, und die Leute hatten ihn geliebt. Dreimal hatten sie mit überwältigender Mehrheit für ihn gestimmt, doch das letzte Mal, voriges Jahr, als der bittere Urteilsspruch im Hailey-Prozess jedem noch in frischer Erinnerung war, hatten ihn die Bürger von Ford County aus dem Amt gewählt. Auch in den Countys Tyler, Milburn und Van Buren, praktisch im gesamten zweiundzwanzigsten Bezirk, hatte er massive Wählerverluste hinnehmen müssen, bis auf Polk County, seinem Heimatbezirk, wo sich die Leute zur Urne geschleppt und ihm eine beschämende Mehrheit von sechzig Stimmen beschert hatten.
Seine Karriere im Staatsdienst war vorbei, aber mit seinen vier undvierzig Jahren schaffte er es manchmal beinahe, sich einzureden, dass er eine Zukunft habe und immer noch gebraucht werde. Von wem und wofür, war ihm nicht so ganz klar. Seine Frau drohte, ihn zu verlassen, falls er jemals wieder für irgendetwas kandidierte. Nachdem er zehn Monate in einer kleinen, ruhigen Kanzlei herumgesessen und den spärlichen Verkehr auf der Main Street beobachtet hatte, war Rufus gelangweilt, gedemütigt, gebrochen und auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Der Anruf von Booker Sistrunk war ein Wunder gewesen, und Rufus hatte sich sofort auf die Chance gestürzt, bei einem Rechtsstreit mitwirken zu können. Die Tatsache, dass Jake sein Widersacher sein würde, machte den Fall nur noch interes santer.
Er öffnete die Tür, stieg aus und hoffte, dass ihn niemand erkannte. Wie tief die Mächtigen doch gefallen waren.
Das Gericht von Ford County öffnete um acht Uhr. Fünf Minuten später marschierte Rufus durch den Vordereingang, was er in seinem früheren Leben häufig getan hatte. Damals hatte man ihn respektiert, sogar gefürchtet. Jetzt ignorierte man ihn, mit Ausnahme eines Pförtners, der ihm einen fragenden Blick zuwarf und um ein Haar »Kenne ich Sie nicht von irgend woher?« nachgerufen hätte. Rufus eilte nach oben und war froh, dass der große Gerichtssaal unverschlossen und unbewacht war. Die Anhörung war für neun Uhr angesetzt, und er war der Erste, der gekommen war. Das war Absicht, denn er und Mr. Sistrunk hatten einen Plan.
Rufus war erst zum dritten Mal seit dem Hailey-Prozess wieder hier, und bei dem Gedanken daran, dass er damals verloren hatte, bekam er Magenkrämpfe. Er blieb kurz hinter der großen Doppeltür stehen und ließ die bedrohliche Weite des leeren Gerichtssaals auf sich wirken. Die Knie wurden ihm weich, und eine Sekunde lang fühlte er sich einer Ohnmacht nahe. Als er die Augen schloss, hörte er wieder die Stimme von Jean Gil lespie, der Justizangestellten, die das Urteil verlas: »Wir, die Jury, befinden Mr. Hailey in allen Anklagepunkten für nicht schuldig. Als Begründung führen wir Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt an.« Was für eine Blamage! Es ging einfach nicht, dass man zwei Menschen kaltblütig erschoss und dann sagte, man habe es getan, weil sie es verdient hätten. Nein, man musste eine juristische Begründung dafür finden, und Unzurechnungsfähigkeit war alles, was Jake Brigance dazu eingefallen war.
Offenbar hatte es genügt. Als Carl Lee Hailey die Männer getötet hatte, war er so zurechnungsfähig wie du und ich gewesen.
Während Rufus weiterging, musste er daran denken, wie damals das Chaos im Gerichtssaal ausgebrochen war, als Familie und Freunde Haileys vor Begeisterung durchgedreht waren. Es war Unzurechnungsfähigkeit gewesen! Sekunden später, nach dem ein Kind den Leuten »Nicht schuldig! Nicht schuldig!« zugerufen hatte, war die Menschenmenge, die sich um das Ge richtsgebäude herum versammelt hatte, in Beifallsstürme aus gebrochen.
Als Rufus die Schranke erreichte, war es ihm gelungen, sich wieder zu sammeln. Er hatte viel zu tun und wenig Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Wie in jedem anderen Gerichtssaal standen zwischen der Schranke – einer Art Geländer – und der Richterbank zwei große Tische. Am Tisch auf der rechten Seite saß bei einem Strafprozess – sein ehemaliger Zuständigkeitsbereich – der Staatsanwalt, bei einem Zivilprozess der Kläger. Dieser Tisch befand sich dichter an der Geschworenenbank, sodass er, Rufus, sich bei einem Prozess immer näher bei seinen Leuten fühlte. Der andere Tisch, drei Meter links davon, war der Platz der Verteidigung, sowohl bei Straf- als auch bei Zivilprozessen. Für die meisten Anwälte, die im Gerichtssaal Karriere machten, hatte die Sitzordnung einen hohen Stellenwert. Sie drückte Macht
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