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Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Lowe
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die verschlossenen Fensterläden hereinwehte. Der Strom der Aufregung, den diese Kreatur verspürte, floss in Kalans Traum mit ein: Sie war fast da, war ihrer Beute so nah – und niemand hatte auch nur einen Verdacht, dass sie hier war. Sie arbeitete sich von Schatten zu Schatten vor und schlüpfte vor den Augen der Wachen von der Alten in die Neue Burg. Sie waren blind, blind und taub gegenüber der Gefahr in diesen gefährlichen Zeiten, sogar wenn sie vorübergeisterte. Narren! Sie würde sich später um sie kümmern.
    Die einzige Sorge der Kreatur war der beißende Silbergeruch in der Luft. Dieser Geruch wurde strenger, als sie sich ihrer Beute näherte. Das Silber ätzte wie Säure in Nasenlöchern und Kehle. Das machte es schwer, klar zu denken, obwohl sie sehen konnte, dass das Mädchen die Quelle war. Ein schwacher Silberschein umgab es, wie Fäulnis eine Leiche.
    Der flache Kopf zog sich zurück. Die empfindlichen Nasenlöcher blähten sich, denn der Geruch war auf undefinierbare Art vertraut: Die Kreatur glaubte, dass sie ihn von einem anderen Ort oder einer anderen Zeit kannte. Der Wandbehang, der ihr mit seinen dicken Falten und der detailreichen Jagdszene wie das ideale Versteck erschienen war, entwickelte ein eigenes beunruhigendes Leben. Aber was konnte das schon bedeuten? Das Mädchen schlief fest und war allein. Nur die lahme Dienerin war da, die genauso gut hätte schlafen können.
    Ihr langer, geschmeidiger Körper löste sich von dem Wandbehang, der sie versteckt hatte, und fiel auf den Boden. Dort hielt sie inne und sammelte sich, bevor sie zum Bett und dem darin schlafenden Mädchen schwebte.
    Kalan versuchte verzweifelt, zu schreien oder anderweitig einzuschreiten – und sei es nur, um die Aufmerksamkeit der Frau am Feuer zu erregen. Doch die Finsternis legte sich wieder um ihn und zog ihn zurück in den Sturm. Er kämpfte dagegen an, aber der Traum spülte ihn weiter. Als Kalan schließlich zerschlagen und atemlos freikam, fand er sich in der grauschwarzen, nebligen Nacht wieder. Kalan konnte sich nicht daran erinnern, was kurz zuvor mit ihm geschehen war.
    Er stand an einem von Nebelbänken umgebenen Pfad. Der Nebel erstreckte sich zwischen den kahlen Baumstrünken und dem verzweigten Schwarz eines großen Waldes. » Das Tor der Träume « , erkannte Kalan. Nur erschien ihm dieser Wald größer, verwilderter und unendlich viel älter als der Wald, der Yorindesarinens Feuer umgab. Er zitterte. Zwischen den Bäumen befand sich undurchdringliches Dickicht. Die Stimme des Windes war fort und durch das Knacken und Rauschen der Äste, die sich aneinanderrieben, ersetzt worden. » Es klang « , dachte er beklommen, » wie ein dunkles Geheimnis und nicht wie eine freundliche Unterhaltung. «
    Der Nebel vor ihm hob sich langsam, zerstreute sich und gab die große Gestalt eines Mannes frei. Der Mann stand mit dem Rücken zu Kalan. Ein langer schwarzer Umhang reichte bis fast auf seine Fersen, die in Stiefeln steckten. Seine rechte Hand hielt einen langen, verpackten Speer, und auf seiner linken Schulter saß eine Krähe. Der Vogel drehte den Kopf herum und hielt Kalans Blick mit einem hellen Auge fest. Dann breitete er seine Flügel aus und krächzte. Der raue Schrei hallte durch die Bäume und den Nebel. Der Mann sah sich um. Kalan schnappte nach Luft, denn das Gesicht des Fremden war unter einer schwarzen Ledermaske versteckt, und seine linke Hand war am Handgelenk abgeschlagen worden.
    Kalan zwang sich dazu, geradeheraus zu sprechen. » Wer seid Ihr? « , fragte er. Die leeren Augenlöcher der Maske waren auf ihn gerichtet, doch der Mann sagte nichts. Er stand einfach da und lehnte sich auf den Speer. » Wie heißt Ihr? « , versuchte Kalan es noch einmal.
    Die Krähe krächzte eine Warnung. Die Stimme des Maskierten war in der Stille des Waldes ebenso hart wie die des Vogels. » Willkommen, Symbolträger « , sagte er. » Es ist lange her, dass der Jagdmeister zu einer Jagd gerufen wurde. «
    Kalan zögerte und war sich nicht sicher, was der Mann meinte oder ob er gefahrlos nachfragen konnte. » Der Jagdmeister? « , wiederholte er unsicher. » Welche Jagd? «
    Die schwarze Maske beobachtete ihn weiter. » Eine weise Person « , sagte die scharfe Stimme, » kennt die Gesichter seiner Freunde – und die seiner Feinde. «
    » Wie bitte? « , sagte Kalan. Doch der Mann ging bereits weg. Der schwarze Umhang bauschte sich hinter ihm auf. Kalan stand wie angewurzelt auf der Stelle und starrte ihm

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