Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
schnellen Tod durch eine Klinge vor. Die schrittweise Zerstörung seines Hauses und seiner Burg hätten den Anfang gemacht. Dann die unaufhaltsame Untergrabung von Vertrauen und dann die allmähliche Zermürbung all derer, die er liebt. Vielleicht hätten seine Feinde sich auch mit den kleineren Vergnügungen zufriedengegeben, ihn zu fangen, ihn zu foltern und ihn dann zu töten, wenn er völlig verzweifelt ist. Vielleicht aber auch nicht. «
Kalan schauderte und spürte, wie die klirrende Kälte der Leere an den Rändern seiner Seele zerrte. Dennoch sagte er mit fester Stimme: » Woher wisst Ihr das alles? «
» Ich? « , fragte der Jagdmeister. » Ich weiß viele Dinge, so wie alle, die in den Falten und Nebeln der Zeit hausen. Du hast mit der sternenhellen Heldin bereits gesprochen. Doch ich hause hier schon viel länger und auch tiefer drinnen; in den Windungen und Wendungen des Nebels. Vielleicht tiefer als alle anderen. Es gibt nur wenig, das mir verborgen bleibt; besonders von der Finsternis, die die Seele frisst und in sich selbst brütet und verfault. Außerdem gibt es zu viele, die hier unachtsam durchlaufen und sich ihrer Kraft so sicher sind. Sie denken nicht einmal daran zu fragen, wer neben ihnen durch den Nebel geistert oder mithört, wenn ihre Worte und Gedanken wie Steine in die Tiefe fallen. «
Die harsche Stimme war leidenschaftslos. Dennoch schauderte Kalan und war von der schwarzen Maske wie gebannt. » Ich verstehe bald gar nichts mehr « , dachte er und zitterte erneut. Er räusperte sich. » Heißt das, dass Ihr stärker seid als Yorindesarinen? « , fragte er.
Einen Moment lang war der Jagdmeister vollkommen still. Dann stieß er ein kurzes, bellendes Gelächter aus. » So eine Frage kann nur ein Junge stellen! Sogar ich würde es mir zweimal überlegen, das auszuprobieren, da ich selbst noch nie dem Chaoswurm entgegengetreten bin. « Die Stimme wurde wieder ernst. » Ich bin älter, Junge, das ist alles. Und viel, viel finsterer. «
Kalan hatte Mühe zu begreifen, wie alt das wohl sein konnte. Die Krähe stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Sogar das Lied des Speers surrte mit finsterer Belustigung, als die Fragen durch Kalans Gedanken schwirrten. Doch dann bellte der Hund wieder. Diesmal klang es viel näher. Sein Begleiter drehte sich um. » Wir haben keine Zeit mehr « , sagte er. » Die Jagd erwacht und braucht ihren Meister. Sogar ein Großer Speer kann dagegen nichts sagen! « Er hielt inne. » Derartige Waffen wählen ihre Träger selbst. Er hat sich dir gezeigt, aber die Zeit ist noch nicht reif, Junge. Er würde dich umbringen, wenn du ihn jetzt ergreifst. «
Kalan sah, dass der Speer sich in den Nebel zurückzog. Sein Lied verklang. Er spürte einen unbändigen Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu ergreifen, bevor er vollkommen verschwand.
» Nein, Jüngling. Der Jagdmeister hat recht. Der Speer wird seine Zeit und den Ort bestimmen. Sei nicht vermessen, sonst wird er sich gegen dich wenden. « Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, ein schwaches Krächzen, das direkt in seinen Gedanken sprach. Kalan erschrak und starrte die große Gestalt neben sich an. Doch die schwarze Maske war auf den verblassenden Speer konzentriert. Nur die Krähe bewegte sich, schüttelte die Federn aus und krächzte wieder. Verblüfft drehte Kalan Yorindesarinens Ring an seinem Finger. Er musste einfach hoffen, dass diese Hand eines Tages den schwarzen Speer halten würde.
» Vielleicht. « Die Gedankenstimme war immer noch schwach. » Doch jeder, der einen Großen Speer ergreift, muss stark sein, sonst beherrscht die Waffe den Träger. Du bist für diese Prüfung noch nicht bereit. «
Kalan erinnerte sich an die furchtbare, unwiderstehliche Verlockung durch das Lied und wie erschöpft Asantir gewesen war, nachdem sie den schwarzen Speer gegen die Finsterschwinge geschleudert hatte. Doch seine Füße liefen nur schleppend, als er sich umdrehte und dem Jagdmeister folgte, der bereits zwischen den Bäumen verschwand. Jetzt, da der schwarze Speer nicht mehr zu sehen war, hörte Kalan in der Ferne Hundegebell, das sich zu einem finsteren und furchtbaren Getöse steigerte. Es ähnelte dem Lied des Speers. Stimmen waren ebenfalls zu hören, die sie begrüßten und sie drängten, sich zu beeilen. Dann ertönte plötzlich klar und deutlich ein Horn.
Die Maske sah über ihre Schulter mit dem schwarzen Umhang. » Horch auf das Geräusch, Junge! « , sagte die barsche Stimme. » Die
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