Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

milchweißen Hunde mit ihren blutroten Augen erheben ihre Stimme zum ersten Mal seit vielen langen Jahren. Der Jagdmeister darf nicht zögern, wenn die Jagd einmal erwacht ist. Und sie ist jetzt hellwach! «
    Der Boden wurde steiler. Kalan merkte die Anstrengung in seinen Beinen und hörte sein keuchendes Atmen. Er bemühte sich, den schwarzen Umhang nicht aus den Augen zu verlieren. Der Nebel lüftete sich, und der Wald wurde immer offener, je weiter sie den Hügel hinaufstiegen. Der Mond schien und tauchte die Welt in Silber. Die Perle in Yorindesarinens Ring glühte als Antwort. Der Boden wurde wieder eben, und Kalan beschleunigte seine Schritte. Dann kam er abrupt zum Stehen.
    Er stand am Rande einer weiten, offenen Bergkuppe, auf der zahllose Hunde durcheinanderliefen. Dahinter befand sich eine Gruppe Jäger. Die Tiere waren weiß wie Milch und riesig. Ihre Augen leuchteten rubinrot, und ihre Stimmen klangen tief.
    » Blut! « , bellten die Stimmen als Getöse in Kalans Gedanken. » Blut und Tod! «

20 Mayannes Netz
    Kalan stand vollkommen regungslos. Er merkte, dass die Krähe zurückgekommen war und sich auf der Schulter des Jagdmeisters ausruhte. Sie zuckte nicht einmal mit einer Feder.
    » Sind das Wyrhunde? « , flüsterte Kalan. Er wagte es nicht, lauter zu sprechen. Er hatte noch nie einen Wyrhund gesehen, denn der Graf der Nacht erlaubte sie nicht in seiner Burg. Doch er wusste, dass sie sowohl eine Macht als auch ein Schrecken der Derai waren.
    Der Jagdmeister schnaubte. » Wyrhunde würden sich herumwerfen und mit der Rute zwischen ihren Läufen wegrennen, wenn sie diesem Rudel begegneten! « Die dunklen Augen bohrten sich in Kalan. » Wirst du die Jagd wagen, Junge? «
    Kalan runzelte die Stirn, denn es war unmöglich, keine Angst vor diesen wilden, unruhigen Hunden zu haben. Doch er hatte genug davon, dass man ihn herausforderte und ihm sagte, was er zu tun hatte, ohne dass er Antworten auf seine Fragen bekam. Er verschränkte die Arme. » Seid Ihr und die Jagd nicht einfach ein Gebilde meines Traums? «
    » Ein Gebilde meines Traums « , spottete der Jagdmeister. » Also du glaubst, das hier ist ein Traum? « Die schroffe Stimme wurde so grausam wie die der Hunde. » Was ist nur aus den Derai geworden, wenn das Symbol der Ältesten sich an der Hand eines dummen Jungen befindet. Denk nach! Du bist ein Träumer. Du kannst in deinem Geist und mit deinem wachen Körper das Tor der Träume durchschreiten. So etwas wie einen reinen Traum gibt es überhaupt nicht für dich, niemals – und schon gar nicht, wenn du das Symbol an deiner Hand trägst. Schau, wie es glüht, Junge! Hast du wirklich gedacht, es war ein Zufall, der dich zu mir und der wachgerufenen Jagd gebracht hat? «
    Unwillkürlich sah Kalan zu seiner Hand hinunter. Dann schluckte er. Wie der Mond über ihren Köpfen wurde auch der Ring heller. Aber ein Symbol? Er versuchte, sich daran zu erinnern, was Yorindesarinen gesagt hatte, als sie ihm den Ring gab. Er hatte einem Freund gehört, und die Leute erinnerten sich nicht mehr an ihn. Ein anderer Gedanke nagte an ihm, als er den Ring betrachtete. Da war etwas, das ihm entging oder das er vergaß, doch er kam nicht darauf.
    Langsam hob er den Kopf. » Mein Name ist Kalan « , sagte er, » nicht Junge. Ihr müsst mir Euren wahren Namen nicht sagen, wenn Ihr nicht wollt. Aber ich habe wenigstens einen. « Es entstand eine Pause, in der er nicht von der Stelle wich und zurückstarrte. » Ich verstehe nichts von dem hier « , fuhr er etwas ruhiger fort. » Die Jagd, Ihr, dieser Ring … Ich weiß aber, dass ich es verstehen sollte. «
    Der Jagdmeister zuckte mit den Schultern. » Warum die Zeit mit Namen verschwenden? Taten sind es, die zählen, wenn man der Jagd folgt. «
    » Das sagst du « , sagte die schwache, leicht heisere Stimme. Diesmal war Kalan nicht sicher, ob er sie überhaupt hören sollte. Der Jagdmeister drehte leicht seinen Kopf, als ob er lauschte. » Aber du hast auch vergessen, wie es ist, jung zu sein … und vielleicht auch deinen eigenen Namen, da du ihn so selten aussprichst. Der Junge hat recht. Er muss wissen, welche Rolle er hier spielen soll. «
    » Eine Rolle? Ich? « Kalan war alarmiert. Der Jagdmeister musterte ihn. Die Maske und ihre Augenhöhlen waren gleichermaßen ausdruckslos.
    » Wir haben immer weniger Zeit, und du hast noch viel zu tun. Also hör gut zu, Junge … Kalan. Das hier sind keine Derai-Tiere. Es sind wilde, ungezähmte und unzähmbare Hunde, die