Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
ich die Bezeichnung ›Großmutter‹ missen wollte.«
Andreas berührte unwillkürlich die Stellen in seinem Gesicht, wo sich unter der Haut noch letzte Reste von Blutergüssen zeigten. Die Schramme, die Pater Silvicola ihm mit dem Pistolenlauf beigebracht hatte, hatte sich mit einer dicken Kruste überzogen und war problemlos geheilt. Er räusperte sich.
Der Jesuit brachte sie zu einem beschädigten Gebäude, das Agnes von einem früheren Besuch her kannte – aus der Zeit, als der Krieg sich hauptsächlich in den deutschen Fürstentümern abgespielt hatte und die Heere sich gegeneinander gewandt hatten anstatt gegen Land und Leute. Sie war erstaunt, dass es überhaupt noch stand. Pater Silvicola benahm sich, als gehöre es ihm; er ließ sie von ihren Bewachern eine Treppe hinauf- und in einen Empfangssaal führen, in dem ein Mann vor einem halben Dutzend offener Truhen kniete und in deren Inhalt kramte. Es hörte sich nicht danach an, als seien sie gut gefüllt. Ein Krug Wein stand neben dem Mann und neben dem Krug ein Becher, der umgefallen war. Der Mann seufzte und stützte sich mit beiden Händen an der nächsten Truhe ab. Ohne sich umzudrehen, fragte er: »Nochnicht genug? Wollen Sie diesmal auch noch die Kisten mitnehmen, Hauptmann?«
»Was soll der Unfug?«, erwiderte Pater Silvicola. Der Mann bei den Truhen wandte sich überrascht um.
Agnes war erschrocken, wie heruntergekommen der Ordensmeister der Kreuzherren vom Roten Stern aussah. Da die hiesige Ordenskommende noch gestanden hatte, hatte sie angenommen, der Mann habe sich einigermaßen gut durch die schwedische Besatzung hindurchlaviert. Nun sah sie, dass er nur mehr die hohle Hülle des Menschen war, den sie vor Jahren kennengelernt hatte.
Der Ordensmeister sah von einem zum anderen, dann wanderte sein Blick langsam zu Agnes zurück, als ihm erst mit Verspätung dämmerte, dass er einen Teil der ungebetenen Gäste durchaus kannte. Agnes schüttelte leicht den Kopf und bewegte den Finger vor ihrem Leib hin und her in einer Geste des Verneinens; sie hoffte, dass er es verstand. Unvermittelt sah sie eine Möglichkeit, Pater Silvicola zu entkommen.
»Wer sind Sie denn?«, fragte der Ordensmeister und machte einen kläglichen Versuch, sich aufzuplustern. Er stieß den Weinkrug um und musste den Blickkontakt mit dem Jesuiten unterbrechen, doch es bestand keine Gefahr, dass Wein verschüttet worden wäre. Der Krug war so leer wie der Becher. Er zerstörte den Eindruck des selbstbewussten Hausherrn vollkommen, als er hinzufügte: »Ich dachte, es sei wieder der Hauptmann der schwedischen Garnison, um den Rest des Ordenseigentums auch noch zu stehlen.« Wenigstens hatte er Agnes’ stumme Botschaft verstanden.
»Wir sind keine Diebe«, sagte Pater Silvicola. »Wir möchten die Nacht über hierbleiben. Ich brauche einen Raum, wo ich die Gefangenen einschließen kann.«
»Was … was haben die Gefangenen denn angestellt?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Sie sind unter meinem Dach, Pater, also geht es mich etwas an«, erwiderte der Ordensmeister mit einem Rest von Würde.
Pater Silvicola trat auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Ordensmeister begann zu blinzeln, und seine Gesichtszüge sackten nach unten und offenbarten eine Maske nackter Angst. Er nickte und räusperte sich.
»Also?«, fragte Pater Silvicola.
»Sie … Sie … es gibt Kellerräume … man kann sie verschließen … und … und …«
»Führen Sie uns hinunter.«
»Wir haben ein krankes Kind dabei«, sagte Agnes. »Uns in den Keller zu sperren ist eine Zumutung.«
»Ihr habt auch unter freiem Himmel in der Kutsche geschlafen«, erwiderte Pater Silvicola, ohne sich umzudrehen.
»Wir lassen uns nicht in den Keller sperren!«
»Wird’s bald?«, wandte sich der Jesuit an den Ordensmeister. »Führen Sie uns in den Keller.«
Agnes versuchte, die Blicke des Ordensmeisters einzufangen, doch es gelang ihr nicht. Die Angst des Mannes war beinahe körperlich zu spüren. Was hatte Pater Silvicola ihm ins Ohr geflüstert?
Trotz ihrer Proteste wurden sie nach unten geführt. Wieder versuchte Agnes, Blickkontakt mit dem Ordensmeister herzustellen, doch seine Augen huschten von links nach rechts und konnten sich an nichts festhalten. Was er als Gefängnis zur Verfügung stellte, waren in Wahrheit die Lagerräume der Ordenskommende im Untergeschoss. Agnes atmete auf; wenigstens würde es halbwegs trocken sein, wenn auch stockdunkel. Der Ordensmeister fummelte mit einem
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