Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
den Verschlag und stieg aus dem Wagen. Der Anführer der kleinen Soldatengruppe gesellte sich zu ihm. Die beiden beratschlagten mit gesenkten Stimmen. Sie spürte Andreas’ Blick und gab ihn mit einem Lächeln zurück, das sie nicht in ihrem Herzen fühlte. Warum konnte Cyprian in dieser Lage nicht an ihrer Seite sein?
Der Jesuit drehte sich zum Wagen um. »Alle aussteigen. Auch das Kind«, sagte er knapp.
Agnes spürte die Panik in Karinas Blick. Ihre Schwiegertochter hatte die gleichen Befürchtungen wie sie selbst. Agnes schüttelte den Kopf. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie.
Sie kletterte als Erste nach draußen, half Lýdie, obwohl diese die Kutsche auch allein hätte verlassen können, und trat schließlich zusammen mit ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkelin beiseite. Was sich an Panorama eröffnete, sobald sie sich vom Wagen entfernt hatten, war das weit rollende Auf und Ab der Hügel, die von Osten her auf Prag zuliefen und unter einem grauen Himmel ein scharf abgegrenztes Wintermusterzeigten: schneebedeckte Felder, dunkle Waldstücke, hier und dort ein kleines Bündel aus Rauchsäulen, das über einem entfernten Dorf stand. Der Ausblick hatte einen Rahmen, der ihn einfasste: einen alten, vierstempligen Galgen, der seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden sein konnte. Zwei der Pfosten waren noch übrig und neigten sich zueinander; die oberen Querbalken, in die die Stricke die Kerben eingesägt hatten, deren jede die Erinnerung an einen würdelosen Tod darstellten, waren lange vergangen. Karina begann zu schluchzen; Andreas musste sie stützen.
Pater Silvicolas Soldaten trieben Agnes und die anderen vor den Galgen, und die Stimme in Agnes, die ihr die ganze Zeit über das Gleiche eingeflüstert hatte, was auch Karina zu hören schien, begann zu kreischen. Sie kreischte noch lauter, als Pater Silvicola den Kopf schüttelte und auf sie zeigte. Zwei Soldaten nahmen sie an den Armen und führten sie vor den Jesuiten. Ihre Beine waren wie mit Werg ausgestopft. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die anderen Soldaten sich mit den Musketen im Anschlag um Andreas, Karina und Lýdie auf bauten. Sie konnte die Geräusche um sie herum kaum hören, weil die Stimme in ihrem Inneren so laut schrie.
»Was hast du vor?«, hörte sie sich mit tauben Lippen fragen.
»Unsere gemeinsame Reise ist hier zu Ende. Du kommst mit mir.«
»Und meine … meine Familie?«
Pater Silvicola schüttelte den Kopf.
»Das wagst du nicht«, krächzte Andreas. Karina begann zu zittern. Lýdie versuchte, nicht zu weinen, und versagte. Die Soldaten musterten ihre Gewehre und dann die drei Menschen, als ginge es darum, Größe, Gewicht und Entfernung richtig einzuschätzen.
»Bitte …«, sagte Agnes rau. »Was soll ich tun? Soll ichmich hinknien? Was soll ich tun? Ich tue alles, nur bitte … hab Gnade.«
Pater Silvicola maß sie mit schief gelegtem Kopf. Agnes raffte ihren Rock und machte Anstalten, vor ihm auf die Knie zu sinken. Ihr Herz schlug so hart, dass mit jedem Pochen Schatten am Rand ihres Gesichtsfeldes zuckten, und sie bildete sich ein, dass sie ein weiteres Pochen hörte, eines, das wie von einem fremden, mächtigen Herzen war, eines, das einen verführte, sich seinem Rhythmus zu überlassen und in seinen Schwingungen aufzugehen. Entsetzt erkannte sie, dass sie einen Hass verspürte, der ihren Körper zusammenzog. Sie wollte die Finger zu Krallen formen und die Eingeweide aus einem warmen, zuckenden Leib reißen – aber nicht aus dem Leib Pater Silvicolas, sondern aus dem des Unbekannten, der vor so vielen hundert Jahren das Buch geschrieben hatte, dessentwegen sie heute, im Matsch der Landstraße, auf Knien um das Leben ihrer Familie flehen musste …
»Hör auf damit!«, sagte Pater Silvicola scharf. »Hältst du mich für deinesgleichen?«
Das Rattern von Wagenrädern näherte sich, untermalt von Hufgeklapper. Es waren weitere Soldaten mit einem Bauernkarren, dem man ansehen konnte, dass er im Herbst noch Heu und Kuhdung transportiert hatte. Der Wagenlenker musste stehen, weil es keinen Kutschbock gab; er war ein Bauer, der vor Angst zitterte. Erst jetzt sah Agnes, dass der Galgen an einer Kreuzung stand; vier Straßen kamen hier zusammen. Pater Silvicola begrüßte die Soldaten, die mit dem Wagen gekommen waren, mit einem Kopfnicken. Sie unterschieden sich deutlich von denen, die sie bis hierher begleitet hatten; sie waren gut gekleidet, gut genährt und hatten den harten Blick von Männern, denen der Krieg
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