Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
schon lange zum einzigen Lebensinhalt geworden war und die nur deshalb noch immer am Leben waren, weil sie gelernt hatten, dass esdarauf ankam, schneller, brutaler und gnadenloser zu sein als ihre Feinde. Selbst die Soldaten, die von Würzberg her mitgekommen waren und denen auf einem belebten Marktplatz niemand auch nur einen alten Apfel hätte anvertrauen mögen, musterten die Neuankömmlinge misstrauisch.
Andreas, Karina und Lýdie wurden ohne viel Aufhebens zu dem Wagen hinübergetrieben und mussten hineinklettern. Der Bauer begann zu flehen, dass man ihn gehen lassen möge, er würde den Wagen gern hierlassen und ihn auch gar nicht mehr zurückhaben wollen; er verstummte, als einer der neuen Soldaten die Hand an den Griff seiner Sattelpistole legte und ihm einen finsteren Blick zuwarf. Langsam wich die Starre, die Agnes ergriffen hatte, und das Verständnis sickerte in ihr Hirn, dass man Andreas und seine Familie nicht neben der Straße erschießen würde. So absurd es war, die erste Regung, die sie Pater Silvicola gegenüber wegen dieser Entwicklung empfand, war Dankbarkeit. Dann begriff sie, dass dies trotzdem bedeutete, dass man sie trennen würde.
»Mama?«, fragte Andreas, und dann, an Pater Silvicola gewandt: »Was hast du mit ihr vor?«
Pater Silvicola ignorierte ihn. Er schwang sich auf eines der reiterlosen Pferde, die die Soldaten mitgeführt hatten. Dann zeigte er auf die Kutsche, in der sie von Würzburg bis hierher gereist waren.
»Steig ein«, sagte er zu Agnes.
»Was soll das werden?«, rief Andreas. »Ich verlange, dass meine Mutter bei uns bleibt!«
Agnes erwiderte den Blick des Jesuiten. Sie sah, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl, das in dem Maß wuchs, in dem sie ihr eigenes Gesicht bleich werden fühlte.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort wusste.
Pater Silvicola zerrte an seinem Mantel und ergriff dann die Zügel seines Pferdes. Die Soldaten aus Würzburg stapftenzu dem Bauernkarren hinüber und kletterten auf ihn hinauf. Andreas und seine Familie rückten zusammen. Agnes wurde noch kälter, als sie sah, wie einer von ihnen Lýdie angrinste. Lýdie drängte sich an ihre Mutter. Der Soldat streckte einen Arm aus und kniff Karina in die Wange. Andreas fuhr auf und erstarrte, als er das Gewehr sah, das auf ihn angelegt wurde. Es war klar, dass hier ein Austausch stattfand; die Männer, die bisher ihre Bedeckung gewesen waren, reisten mit dem Bauernkarren und Andreas’ Familie weiter; sie selbst, Agnes, würde nun die Gesellschaft der Elitesoldaten und Pater Silvicolas genießen.
»Dein Sohn und seine Familie fahren zu General Königsmarck«, sagte Pater Silvicola. »Er hat eine Verwendung für sie.«
»Ich werde diesem Teufel nicht mal die Hand reichen!«, rief Andreas.
»Du wirst noch froh sein, ihn um etwas bitten zu können«, sagte der Jesuit.
»Niemals!«
Pater Silvicola zuckte mit den Schultern. Andreas starrte ihn an, dann Agnes. Agnes’ Herz krampfte sich zusammen, als sie das hilflose, verzweifelte Jungengesicht unter der schützenden Speckhülle des Erwachsenen wahrnahm. Der vorwitzige Soldat grinste erneut und ließ eine Haarsträhne Lýdies durch seine Finger gleiten.
Andreas suchte Pater Silvicolas Blick. Es gab Agnes einen neuerlichen Stich, als sie die Erkenntnis in seinen Zügen aufdämmern sah. Es war so einfach, einen Mann dazu zu bringen, selbst seinen ärgsten Feind um etwas zu bitten. »Er soll sie in Ruhe lassen!«, krächzte er zuletzt.
Pater Silvicola verkniff sich ein Lächeln. Er warf lediglich dem Soldaten einen Blick zu, und dieser lehnte sich gemütlich zurück. Mittlerweile waren Andreas, Karina und Lýdie auf engstem Raum zusammengepfercht. Lýdie war kalkweißvor Angst. Einer der Männer gab dem Bauern einen Stoß, und dieser lenkte den Karren herum und zurück auf den Weg, auf dem er gekommen war. Andreas renkte sich den Hals aus, um seiner Mutter noch einen letzten Blick zuwerfen zu können. Agnes versuchte, ihre würgende Angst zu bekämpfen.
»Einsteigen!«, befahl Pater Silvicola.
Sie kletterte in die Kutsche zurück. Es gab kein Entkommen. Was immer sie an Plänen fasste, Pater Silvicola war ihr stets um eine Nasenlänge voraus.
Die Kutsche rollte die Straße entlang, die nach Osten führte, von den Elitesoldaten in die Mitte genommen. Was Agnes betraf, so rollte sie zurück in die Vergangenheit, jenem Tag vor sechsundsiebzig Jahren entgegen, an dem das Blut von zehn unschuldigen Frauen und Kindern die
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