Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Plötzlich hatte er dasGefühl, er habe überhaupt keinen Herzschlag mehr. Noch vor einem Augenblick hatte sein Herz wie rasend geklopft, hatte er sich nichts so sehr gewünscht, wie an Alexandras Seite zu sein. Der Anblick der leeren Truhe in ihrem Versteck tanzte vor seinen Augen. Ihm schien, als fiele er in leeren Raum; zugleich wurde ihm alles klar. »Ich hätte mir denken können, dass du hier sein würdest«, sagte er. »Von wem hätten sie sonst die Nachricht erhalten sollen, dass ich tot sei.«
Er drehte sich um. Alexandra stand vor ihm, nicht weniger verschmutzt und abgerissen als er selbst. Ihre langen schwarzen Locken waren verfilzt, ihr Gesicht voller Schmutzstreifen. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Er hatte den Eindruck, dass mehr graue Strähnen ihr Haar durchzogen als zu dem Zeitpunkt, da er in der Herberge in Bamberg auf sie getroffen war.
»Hast du sie genommen?«, fragte er.
»In Grafenwöhr dachte ich, ich hätte dich verloren«, flüsterte sie. »Und jetzt bedaure ich, dass es nicht so ist.«
Übergangslos stürzte sie sich auf ihn. Er prallte zurück und trat mit dem Fuß in den offenen Schacht, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sein Kopf knallte auf den Boden und ließ ihn einen funkelnden Sternenwirbel sehen. Kurzzeitig dachte er, er würde ohnmächtig werden. Alexandra kam auf ihm zu liegen und begann, mit den Fäusten auf ihn einzudreschen. Er versuchte die Hände vor das Gesicht zu heben und konnte nicht: Sie kniete auf seinen Oberarmen. Wäre ihre Wut nicht so grenzenlos gewesen, dass ihre wirbelnden Fäuste alles Mögliche trafen, und hätte sie sich darauf konzentriert, ihn zu treffen, hätte sie ihn vermutlich totgeschlagen.
»Wo ist sie?«, schrie sie. »Wo hast du sie versteckt? Welches Spiel spielst du, Wenzel? Willst du verhindern, dass ich meine Familie rette? Ist es das? Hast du mit der schwarzen Kutte auch das schwarze Herz der Kustoden geerbt? Willstdu vollenden, was sie vor über fünfzig Jahren nicht vollbracht haben – die Khlesls auslöschen um der Teufelsbibel willen?« Sie schlug ihn auf die Brust, ins Gesicht, auf die Ohren, den Kopf. Die meiste Zeit traf sie den Boden oder sich selbst. »Wo ist sie?«, schrie sie. »Gib sie heraus! Ich hasse dich, Wenzel, ich hasse dich. Wie konnte ich nur jemals glauben, dass ich dich liebe? Ich hasse dich! «
Wenzel gelang es, sich herumzuwerfen. Sie schlang die Beine um ihn und ließ sich nicht abschütteln. Jetzt lag er auf ihr. Seine Hände waren frei. Ihre Krallen fuhren nach oben, doch er konnte ihr Handgelenk packen. Ihre andere Hand versetzte ihm einen Faustschlag, bis er auch sie packen konnte. Sie wand sich unter ihm und schrie wie eine Wilde: »Gib mir die Teufelsbibel! Gib sie mir! Gib sie mir! «
»Bist du verrückt geworden?«, brüllte er. »Ich habe das verdammte Ding nicht versteckt. Du hast sie aus ihrem Versteck genommen! Woher wusstest du überhaupt …«
Sie versuchte sich loszureißen. Ihr schmutziges Mieder dehnte sich und riss und verlor ein paar Knöpfe. Ein Kreuz an einer Kette rutschte aus ihrem Ausschnitt. Wenzel kannte das Kreuz. Es sah so aus wie seines.
»Agnes!«, sagte er atemlos. »Nur von ihr kannst du …«
Alexandra bäumte sich auf. Er war zu überrascht, um sich halten zu können. Ineinander verkrallt rollten sie über den Boden. Wenzel hörte wie von ferne das Hämmern und das Geschrei der Mönche draußen vor der Bibliothek. Die früheren Plünderungen hatten Wenzels Vorgänger noch etwas gelehrt – keinen zweiten Zugang zur Bibliothek zuzulassen. Er hielt Alexandras Handgelenke umfasst, um sie daran zu hindern, dass sie ihm die Augen auskratzte. Erneut kam sie auf ihm zu liegen. Sie rang darum, sich loszureißen, und er bemühte sich verzweifelt, sie festzuhalten.
»Ja, meine Mutter hat mir den Schlüssel gegeben und mir verraten, dass die Teufelsbibel hier ist!«, schrie Alexandra.»Wir hatten viel Zeit auf der Reise nach Würzburg, und als wir in Wunsiedel festsaßen, hat sie es mir verraten für den Fall, dass nur eine von uns überleben würde. Als wir flohen, hat sie mir den Schlüssel gegeben. Meine Mutter! Ich lasse nicht zu, dass du sie und die anderen opferst!«
Ihre Finger krümmten sich direkt vor seinen Augen. Er sah ihr verzerrtes Gesicht darüber. Mit einem Aufschrei gelang es ihm, sie nach oben zu drücken und wegzustoßen. Sie fiel zur Seite und rappelte sich sofort wieder auf, um sich erneut auf ihn zu stürzen. Er rollte sich herum und
Weitere Kostenlose Bücher