Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
nicht alle …« Er brach ab und holte Luft. Sie starrten ihn immer noch alle an. Wenzel riss sich zusammen.
»Lasst mich durch«, sagte er rau. »Ich muss in die Bibliothek!«
»Warte, ehrwürdiger Vater! Du musst zuerst noch …«
»Nein. Alles andere kann warten.«
Er stürmte durch die Gasse hindurch, die sich für ihn bildete. Alle Augenpaare hingen an ihm. Er fühlte die Berührungen von den Händen derjenigen, die immer noch nicht sicher waren, ob er nicht doch ein Phantom war, dann eilte er auf der anderen Seite der Kirche hinaus. »Bleibt und betet!«, rief er über die Schulter. »Betet für unser Land und die Menschen darin.«
Er hatte die eine Seite des Kreuzgangs, der sich nach der Kirche anschloss, noch nicht durchschritten, als er sie alle aus der Kirche drängen und ihm nachkommen hörte.
»Ehrwürdiger Vater!«
Erbittert fluchend und sich gleichzeitig dafür bekreuzigend, rannte er die Treppe hinauf in den großen Bibliothekssaal. Er hörte sie hinterhergaloppieren. Die beamteten Brüder wussten, welch düsteren Schatz das Kloster unter all den herrlichen Handschriften, Messbüchern, Lektionaren, Codices und Schriftrollen beherbergte, die zum Teil ein halbes Jahrtausend alt waren und den Rest der gewaltigen Sammlung darstellten, der alle Plünderungen und Brände überstanden hatte; die niederen Brüder und die im Kloster angestellten Laien hatten davon jedoch keine Ahnung. Wenzelwollte, dass es so blieb – aber jetzt die beamteten und die anderen Brüder voneinander zu trennen war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie würden alle zusammen in den Bibliothekssaal platzen und seine Mission unmöglich machen, wenn er sie nicht abhängte.
Während er die Stufen hinaufkeuchte, immer zwei auf einmal nehmend, fragte er sich, welche Mission es eigentlich war. Allein der Gedanke daran rief Entsetzen in ihm empor. Das Leben der Khlesls für die Aushändigung der Teufelsbibel? Seit er zum ersten Mal von dem Vermächtnis des Satans erfahren hatte, war ihm klar gewesen, dass es keine höhere Aufgabe gab, als die Welt vor ihm zu schützen; Cyprian oder auch sein eigener Vater hatten mehrfach ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das endgültige Erwachen des teuflischen Codex zu verhindern. Und er, Wenzel von Langenfels … er war schließlich dazu ausersehen worden, das alte Amt der Kustoden wiederzubeleben. Wenn es einen gab, auf den sich alle verließen, dann ihn! Auch wenn das hieß, dass seine Familie deswegen umgebracht wurde? Aber es war ja gar nicht seine Familie! Er war der Fremde unter ihnen, der Bastard, das Findelkind. Seit er von Melchior Abschied genommen hatte, hatte er sich gefragt, ob Cyprian und Andrej ihn bewusst deshalb ausgewählt hatten, für den Fall, dass es einmal darum gehen sollte, genau diese Entscheidung zu treffen.
Das Leben der Khlesls gegen die Unversehrtheit der Teufelsbibel. Der Tod einer Familie gegen die Rettung der Welt. Wog das Wohl vieler nicht weit mehr als das Wohl einiger weniger?
Würde Cyprian Khlesl zulassen, dass diejenigen, die er sein ganzes Leben lang beschützt hatte, für die Sicherheit der Teufelsbibel starben? Durfte er, Wenzel, es darauf ankommen lassen? So wie er Cyprian einschätzte, war dieser vielleicht schon auf dem Weg hierher, Wenzels leichthin gemachter Bemerkung, dass er und Andrej die Verteidigung Prags organisierenwürden, zum Trotz. Und Andrej, Wenzels Vater? Agnes Khlesl war seine Schwester. Auf welcher Seite würde er stehen? Oder war diese Frage überflüssig, weil auch er, Andrej, zugestimmt hatte, dass Wenzel der Bastard, Wenzel der Findling, Wenzel der Fremde die Aufgabe bekommen hatte, die Teufelsbibel zu hüten? Hatten sie alle damit gerechnet, dass ein einzelner Mann eines Tages gegen sie alle stehen würde, weil das gemeinsame Bemühen um den Schutz des Codex sie auf einmal zu Feinden gemacht hatte – und sich gedacht, dass es in diesem Fall leichter fiel, den Außenseiter zu bekämpfen als das eigene Fleisch und Blut?
Und er, Wenzel, hatte geschworen, dass er die Welt vor der Teufelsbibel hüten würde. So lange hatte er sich daran festgehalten, dass dies seine Mission war und der einzige Grund, warum Gott ihn auf die Welt hatte kommen und Andrej von Langenfels zur rechten Zeit im Findelhaus der Karmelitinnen hatte vorbeischauen lassen, damit Wenzels Leben gerettet wurde.
Wenn er etwas im Magen gehabt hätte, hätte er sich übergeben. Wenn er etwas im Magen gehabt hätte, hätte er sich schon auf dem Ritt von der Weggabelung bis
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