Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman

Titel: Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Duebell
Vom Netzwerk:
Engel die Köpfe in ihre Richtung und verstummten. Alexandra hatte das Gefühl, dass sich die flackernden Blicke förmlich an ihr festkrallten. Der Pfarrer hörte mitten im Satz zu singen auf und starrte sie ebenfalls an, und nach und nach fielen immer mehr Stimmen des unsicheren Chors aus, bis vollkommenes Schweigen über der Prozessionsgruppe lag; nur ihre Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden. Sie marschierten stumm an den Besuchern vorbei, starrend, als sähen sie in ihnen Geister oder als wären sie selbst Geister mit dunklen Augen, hungrigen Gesichtern, blassen Lippen. Die Barbarazweige in den Händen der Gemeinde sahen aus, als wären sie frisch von Bäumen gerissen worden, die durch ein Wunder im Winter erblüht waren, und die rosigen Blüten wirkten wie Blutstropfen in der Düsternis, ein ungeheures Sakrileg, für das der Pfarrer und seine Herde verdammt waren, auf ewig durch die Gassen Würzburgs zu wandeln. Dann tauchten sie in die Öffnung der Gasse ein, die zur Afrakirche hinaufführte, die dünne Stimme des Pfarrers erhob sich erneut, und die Gemeinde fiel ein.
    »Diese Stadt ist verflucht«, flüsterte Alexandra.
    »Nein«, sagte Agnes. »Sie war es. Die Menschen haben es nur noch nicht geschafft, das zu vergessen.«

    Die Glocken zur Christvesper läuteten bereits zum ersten Mal, als sie das Haus erreichten, in dem Andreas seine Familie untergebracht hatte. Es lag nur ein paar Steinwürfe weit vom Spital entfernt und musste einem wohlhabenden Patrizier gehört haben. Äußerlich war es unversehrt; doch Alexandra ahnte, was sie drinnen erwartete: feuchte Lagerräume im Erdgeschoss, in denen Reste von verdorbener Ware vor sich hin schimmelten, leer geräumte Wohnräume im ersten Stock und Gesindekammern im Dachgeschoss, in denen nur zurückgeblieben war, was man auf der Flucht absolut nicht hatte mitnehmen können.
    Zu ihrer Überraschung wurde die Tür geöffnet, sobald sie dagegengeschlagen hatten. Das Gesinde stand in dem engen Flur beisammen, eingehüllt in Mäntel, Decken und Kapuzen. Die meisten von ihnen hatte Andreas aus Prag mit auf die Reise genommen; sie knicksten oder verbeugten sich, als Agnes und Alexandra ihre Kapuzen abstreiften. Das in Würzburg gemietete Personal folgte nach kurzem Zögern ihrem Beispiel. Ein kleines Mädchen von höchstens sechs oder sieben Jahren gaffte die Neuankömmlinge mit offenem Mund an und knickste erst, als eine Frau, offenbar die Mutter und eine der in Würzburg angestellten Mägde, ihr einen Knuff gab.
    »Was ist denn hier los?«, fragte Alexandra.
    »Das ist nicht das Christkind«, sagte das kleine Mädchen. Ein paar Stimmen machten: »Schsch!«
    »Wo ist der Herr?«, fragte Agnes.
    Eine Magd putzte sich die Nase. »Oben, Frau Khlesl«, flüsterte sie. »Der heiligen Jungfrau sei Dank, dass Sie da sind, Frau Khlesl. Und Sie auch, junge Herrin.«
    Alexandra, die mindestens zehn Jahre älter war als die Magd, verdrehte die Augen. Wer eine derart Respekt einflößende Frau wie Agnes Khlesl zur Mutter hatte, würde noch mit hundert Jahren und vollkommen zusammengeschrumpelt im Lehnstuhl die junge Herrin sein. »Worauf wartet ihr?«, fragte sie.
    »Auf den Beginn der Christvesper.«
    Sie kletterten die Treppe empor, eine enge, düstere Angelegenheit, die darauf hinwies, dass das Haus zu einer Zeit erbaut worden war, in der Häuser in Städten zugleich Festungen waren, weil eine Geschäftskonkurrenz durchaus in eine bewaffnete Fehde ausarten konnte. »Warum gehen sie nicht einfach los?«, fragte Alexandra. »Die Glocken haben schon das erste Mal geläutet!«
    »Weil es hier genauso ist wie bei uns zu Hause«, sagte Agnes und hielt einen Augenblick lang an. »Das Gesinde geht nicht ohne die Herrschaft in die Kirche. Lieber Himmel, ist das steil. Ich bin wirklich ein altes Weib.«
    »Hier stimmt was nicht. Die Dienstboten sollten wenigstens ein bisschen Freude zeigen. Es ist der Heilige Abend, und wir sind endlich angekommen …« Alexandra stockte plötzlich.
    Agnes schüttelte den Kopf. »Sie lebt«, sagte sie grimmig. »Wenn es nicht so wäre, wüssten wir es.«
    Eine Tür wurde aufgerissen, als sie am oberen Treppenabsatz ankamen. Ein hochgewachsener, breit gebauter Mann trat hindurch und verfinsterte kurz den flackernden Schein eines Feuers, der aus der offenen Tür leuchtete. Er prallte zurück, dann riss er sich den Hut vom Kopf, und sein Gesicht verzog sich zu einem überraschten Lächeln.
    »Wir wären früher angekommen, wenn es nicht einige

Weitere Kostenlose Bücher