Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
warum man es uns für einen Spottpreis überließ. Wir wollten Lýdie ins Warme bringen, das war alles.«
»Es gibt keine Flüche«, krächzte Alexandra.
Karina schüttelte den Kopf. »Es gibt Flüche«, sagte sie müde. »Sie bestehen aus Reue, versäumten Gelegenheiten und der Angst, das zu verlieren, was man am meisten liebt, und sie sind so mächtig, dass sie alles vergiften.«
Jemand räusperte sich auf der Treppe. Es war einer der Dienstboten des Hauses. Wie von Weitem hörte Alexandra, dass das zweite Glockenläuten für die Christvesper mit den letzten Schlägen verstummte.
»Herr?«, fragte der Dienstbote. »Sollen wir schon mal … dürfen wir …?«
Andreas starrte ihn an. Alexandra packte ihren Bruder an den Oberarmen und schüttelte ihn. Er wandte sich ihr zu. Seine Lippen arbeiteten. Für einen Moment war sein Gesicht wieder das des kleinen Jungen, für den sie vergeblich so viel Zuneigung aufzubringen versucht hatte wie für ihren jüngsten Bruder Melchior und der seine große, über alle Maßen verehrte Schwester ansah und über diesen Umstand genau Bescheid wusste. Alexandra schluckte.
»Wie geht es Lýdie?«, flüsterte sie.
Andreas machte sich los.
»Ich muss zur Christvesper«, sagte er. Sein Gesicht zuckte unvermittelt. »Wenigstens einer von uns sollte dorthingehen. Es gibt ein … ein Paradiesspiel. Wir … wir haben … wir haben dem Pfarrer Geld gegeben, um einen Baum zu kaufen und … und für die Äpfel zum Dranbinden … Zu einem Paradiesspiel gehören ein Baum und die Äpfel daran. Es gehört sich, dass wir …«
Er brach ab und floh die Treppe hinunter. Alexandra blickte ihm hinterher, dann wandte sie sich Karina zu. Sie umarmte sie und presste sie an sich.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Ich wollte diesen Streit nicht. Wie geht es Lýdie?«
Karina wisperte ihr ins Ohr: »Es ist zu spät, Alexandra. Lýdie liegt im Sterben.«
3.
Andreas und Karina hatten den einen warmen Raum, über den die meisten Patrizierhäuser verfügten, zu einer Art Krankenzimmer umgestaltet. Die Luft war warm und stickig; der erste Eindruck war der eines Vogelnests in einem alten Baum. Boden, Wände und Decken – alles war mit Holz vertäfelt. Im Fenster waren dicke Butzenscheiben eingesetzt. Das Tschiepen und Singen eines halben Dutzends Singvögel in einem riesigen Bauer in einer Zimmerecke machte den Eindruck eines Nests vollkommen.
An die gegenüberliegende Wand war ein Bett geschoben. Die fahle Gestalt des Todes stand an seinem Fußende und schien auf die Seele zu warten, die nur noch halbherzig in dem schmalen Körper unter den Decken verharrte.
Alexandra griff sich unwillkürlich an den Hals; dann drehte sich die blasse Gestalt um und wurde zu einer Klosterschwester in einem schmutzig weißen Habit, einer Novizin, deren Gesicht frühzeitig gealtert war. Sie hob einen Finger an die Lippen und machte: »Schschsch!«
Alexandra und Agnes wechselten einen Blick. Alexandra trat vor zum Bett und sah aus dem Augenwinkel, wie Karina, die ihr folgen wollte, von Agnes sanft am Arm festgehalten wurde. Die Novizin betrachtete Alexandra misstrauisch. Einen Augenblick lang wurde Alexandra sich bewusst, dass sie noch die Reisestiefel trug und voller Dreck und Schlamm von den Straßen war und noch nicht einmal einen Schluck warmen Weins bekommen hatte. Dann nahm sie den Geruch wahr, der vom Krankenbett aufstieg.
»Sie schläft«, zischte die Novizin.
Alexandra war stehen geblieben. »Was ist Ihre Aufgabe hier, Schwester?«
»Die Mutter Oberin aus dem Heilig-Geist-Spital hat sie uns zur Verfügung gestellt«, sagte Karina mit einer Stimme,der man anhören konnte, dass sie die Tränen nur mühsam unterdrückte.
»Gibt es keine Ärzte?« Alexandra vernahm das empörte Einatmen der jungen Klosterschwester und ignorierte es; dies war nicht der Zeitpunkt für falsche Höflichkeiten. Dann beantwortete sie sich die Frage selbst: »Ah ja – zu viele Scheiterhaufen in der Vergangenheit.« Der Blick, den ihr die Novizin zuwarf, brannte vor Zorn. Beruhig dich, Mädchen , wollte Alexandra sagen, du bist doch noch im Hemd herumgelaufen, während deine älteren Mitschwestern damals handgreiflich die Hexenprozesse unterstützt haben …
Alexandra schwieg, aber die Augen der Novizin zuckten, als hätte sie ihre Worte laut ausgesprochen, und aus der Wut in ihren Zügen wurde Hass. Schon hatte Alexandra sich eine Feindin gemacht. Nun, umso besser: jemandem, der einen hasste, konnte man leichter
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