Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Agnes. »Ich freue mich nur, dass so etwas wie Liebe dein Herz berührt hat. Es ist vollkommen gleichgültig, unter welchen Umständen das geschehen ist. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn mansich der Liebe verschließt. Sie kann bis in die Hölle reichen und die armen Seelen aus ihr herausziehen.«
»Ich habe für niemanden mehr Liebe empfunden als für Miku! Aber sie hat seine Seele nicht wieder zu den Lebenden zurückkehren lassen.«
Agnes’ Augenlider zuckten. Alexandra sah zu Boden. Sie kämpfte mit den Tränen und gewann, aber der Schmerz in ihrer Brust drohte ihr die Luft abzudrücken.
»Können wir nun hineingehen?«, fragte Agnes. »Es geht um Lýdie.«
»Du solltest dich schämen, Mama!«
»Andreas wird dich mit offenen Armen empfangen.«
»Ja, wie die Hölle wird er das tun. Ich höre ihn schon fragen, warum du ausgerechnet mich angeschleppt hast anstatt anständiger Ärzte.«
»Worum geht es? Um Andreas’ Genörgel oder um Lýdies Lachen, wenn sie wieder gesund ist?«
»Ach, verdammt!« Alexandra hob den Blick und suchte nach Worten, aber alles, was sie ihrer Mutter hatte vorwerfen wollen, verstummte vor dem Anblick dieser Frau, die immer in der Nähe gewesen war, wenn sie ihrer bedurft hatte, die einmal durch ihre persönliche Hölle gegangen war, um sie, Alexandra, vor einem Wahnsinnigen zu retten; der sie ihr Leben verdankte, deren Beispiel sie hatte nacheifern wollen, deren große Liebe zu Alexandras Vater das Vorbild hatte sein sollen für ihr eigenes Leben und an dem sie so kläglich gescheitert war … Erneut drängte sie die Tränen zurück. »Du wirst mir zur Hand gehen«, sagte sie nach einer langen Pause. »Und wenn die Behandlung von Lýdie es verlangt, dass du meinem Bruder einen Tritt in den Hintern gibst, dass dein Stiefel stecken bleibt, dann erwarte ich, dass du das, ohne zu zögern, ausführst.«
»Kann ich das auch tun, ohne deine Aufforderung abzuwarten?«
Sie musterten sich. Agnes’ Mundwinkel verschoben sich leicht nach oben.
»Nur wenn du mich zusehen lässt«, sagte Alexandra.
Agnes nahm sie in die Arme, und Alexandra ließ sich in die Umarmung fallen, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen.
»Ich liebe dich, Kindchen«, sagte Agnes.
»Ich liebe dich auch, Mama.«
Die Prozession kam die Gasse entlang, die vom Fluss zu dem Hügel heraufstieg, auf dem das Tor stand und auf dem noch weiter oben der Kampanile und der Giebelturm der Afrakirche sich über den Hausdächern erhoben. Ein Teil des Kirchendachs bestand lediglich aus rußgeschwärzten Dachsparren. Der Gesang hörte sich aus der Nähe nicht kraftvoller an als von draußen vor der Mauer. Vorneweg ging ein als Maria und Joseph verkleidetes Paar, das ein in ein Tuch gewickeltes Bündel trug, in dem man das Jesuskind erkennen sollte. Die jungen Mädchen, die in ihren weißen Kleidern schlotterten und mit ihrem offen getragenen Haar Engel darstellten, welche das heilige Paar begleiteten, waren viel zu dünn und hohlwangig. Ihnen voran ging eine verschleierte Gestalt – das Christkind.
Die Protestanten hatten, da sie die Heiligenverehrung der katholischen Kirche ablehnten, den Nikolaustag durch den Heiligabend ersetzt, und Martin Luther hatte den Heiligen Christ anstelle des Heiligen aus Myra zur zentralen Figur der Weihnachtsfeierlichkeiten gemacht. Die Katholiken, die ihrerseits pragmatisch sein konnten, wenn es ihnen von Vorteil war, hatten den heiligen Nikolaus behalten und um Luthers Christkind ergänzt. In Prag waren beide Gestalten bekannt; aber Prag war schon protestantisch geprägt gewesen, bevor Alexandra geboren wurde. In Würzburg, das nur protestantisch gewesen war, solange die Schweden es besetzthatten, hatte man das Christkind offensichtlich problemlos adoptiert; in einer Stadt, in der die Engel blaue Gesichter und hohle Wangen hatten und in der das Jesuskind in der Prozession nur ein Bündel Lumpen war, konnte man nicht genug Lichtgestalten haben.
Ein Pfarrer ging hinter dem heiligen Paar her und schwenkte einen Weihrauchkessel. Der Duft verlor sich in der Kälte des späten Nachmittags. Die Prozession zog zwei Handvoll von Gläubigen nach sich, die frisch ergrünte Barbarazweige trugen. Der Pfarrer sang mit dünner Stimme; die Gemeinde murmelte eher, als dass sie den Chor bildete. Agnes und Alexandra blieben stehen, um sie an sich vorbeiziehen zu lassen.
Es dauerte mehrere Augenblicke, bis der Pfarrer auf sie aufmerksam wurde. Zuerst drehten die Darsteller der heiligen Familie und der
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