Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Sünde ihrer Mutter. Sie gab Widerworte, war ungehobelt und unmanierlich. Laut Titus war sie Gift in seinem Haushalt, eines, das er nur wegen des Pflichtgefühls seinem verstorbenen Bruder gegenüber bei sich duldete. In dem Augenblick, in dem er glaubte, sie habe einen passenden Antrag erhalten, würde er wissen, dass er sie loswerden konnte. Dann durfte er sich zudem in dem Gefühl sonnen, dass er seine Pflicht getan hatte – und ihre Anwesenheit hier würde ein Ende haben.
Sie legte den Arm um ihre Schwester. Sie dachte an den harten Blick, den Bradenton ihr heute Abend zugeworfen hatte, an das süße, bedeutungslose Lächeln, das die Johnson-Zwillinge ihr schenkten. Sie dachte an den Ausdruck auf Mr. Marshalls Gesicht, als sie die Küchlein von seinem Teller genommen hatte.
Unverschämtheit auf diesem Niveau erforderte Anstrengung. Sie war vollkommen erschöpft.
Dennoch lächelte sie. „Mach dir keine Sorgen.“ Mr. Marshall war allem Anschein nach ein anständiger Kerl, und es war ihr gelungen, sogar ihn abzustoßen. „Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich niemals heiraten werde.“
Kapitel 3
D IE H ERREN BLIEBEN NOCH lange, nachdem die Damen gegangen waren. Bradenton hatte Oliver eingeladen, und Oliver hoffte jetzt, das „Später“, von dem sie gesprochen hatten, würde bald kommen – damit er Bradenton seine Argumente vortragen konnte.
Aber Bradenton hatte sich lieber mit seinem Neffen in der Nähe der Brandykaraffe an einen Tisch gesetzt. „Pass gut auf, Whitting“, sagte er. „Bald wirst du an der Reihe sein.“
Der Prozess, aus einem jungen Mann von kaum einundzwanzig Jahren einen Politiker zu machen, war faszinierend. Der Marquis hatte Hapford Fragen gestellt. Wer hatte was gesagt? Wie hatten sie ausgesehen, während sie redeten? Was dachte Hapford über sie? Bradenton war ein guter Lehrer, milde und wohlwollend.
„Gut“, sagte er schließlich zu seinem jungen Neffen. „Du hast dich wacker geschlagen. Du achtest auf die richtigen Dinge, und du kannst zuhören, wenn es wichtig ist. Du wirst deine Familie stolz machen.“
Hapford zog den Kopf ein und wurde rot. „Ich gebe mir Mühe.“
Da fiel Bradentons Blick auf Oliver, und sein Lächeln wurde breiter, weniger onkelhaft und dafür irgendwie schärfer.
„Was hältst du zum Beispiel von Mr. Marshall?“, erkundigte er sich leise.
Hapford schaute Oliver an und schluckte. „Ich … nun … er … er ist …“
„Ich weiß. Er sitzt direkt hier. Aber ich kenne Marshall. Wir sind alte Bekannte. Und er will, dass ich ihm einen Gefallen tue, also wird er gegen ein paar offene Worte nichts einzuwenden haben. Stimmt’s, Marshall?“
Oliver hatte keine Ahnung, was der Kerl im Schilde führte, daher neigte er nur den Kopf. „Ganz recht, Mylord.“
„Nun gut“, sagte Hapford und holte tief Luft. „Soweit ich es beobachten konnte, ist Mr. Marshall …“
„Aha.“ Der Marquis hielt einen Finger hoch. „Du hast mich beim Wort genommen, nicht wahr?“
Hapford schaute sich leicht verwirrt um. „Hätte ich das nicht tun sollen?“
„Nimm niemanden beim Wort. Mich nicht. Mr. Marshall auch nicht.“ Er lächelte und tätschelte seinem Neffen die Schulter. „Gewöhnlich würde ich etwa eine Woche warten, um diesen Punkt hier einzuführen, aber du hast deine Sache bislang wirklich ausgezeichnet gemacht. Das hier ist eher etwas für Fortgeschrittene, sozusagen. Marshall, seien Sie bitte so zuvorkommend und teilen Sie meinem Neffen den wahren Grund mit, warum Sie meinem Vorschlag zugestimmt haben.“
„Ich wollte wissen, was Sie im Schilde führen“, erwiderte Oliver leicht verwundert.
„Und wenn Sie bitte erklären, warum ich so vor Ihnen gesprochen habe, wie ich es getan habe …“
Oliver machte eine Pause, fragte sich, ob Bradenton wirklich wollte, dass er alles laut aussprach. Aber der Marquis machte eine auffordernde Handbewegung.
„Sie wollten demonstrieren, dass Sie mich dazu bringen können zu tun, was Sie wollen. Dass Sie die Oberhand haben.“ Denn die hatte Bradenton momentan.
„Ganz genau“, sagte Bradenton. „Du siehst, wie es ist, Hapford. Männer wie du und ich haben Macht und Wissen. Wir können diese Macht gegen andere Dinge eintauschen. Für geringe Macht bekommt man weniger wichtige Dinge, für große Macht hingegen …“ Er zuckte die Achseln. „Was, denkst du, will Mr. Marshall?“
„Er will Ihre Stimme für die Ausweitung des Wahlrechts“, antwortete Hapford, ohne zu zögern. „Und ich wollte
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