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Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Titel: Die Erbin und ihr geliebter Verraeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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als zuvor. „Emily, meine Liebe. Wer hat dir beigebracht, die Unwahrheit zu sagen? Die Autorität Älterer offen anzuzweifeln? So zu deinem Vormund sprechen?“
    Du , dachte Jane. Und Notwendigkeit .
    Aber die Gedanken ihres Onkels bewegten sich offenbar in eine andere Richtung. Sein Blick glitt zu ihr.
    Er schaute sie nicht anklagend an. In ihm war keine Spur Grausamkeit. Seine Miene war lediglich fast schon pathetisch traurig. Er setzte sich vorsichtig neben Emily und tätschelte ihr die Schultern.
    „Emily“, sagte er leise. „Du bist ein aufrichtiges Mädchen. Und ich weiß auch, dass du deine Schwester sehr gern hast.“
    Er kannte Emily überhaupt nicht. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, auch nur eine von ihnen wirklich kennenzulernen.
    „Es ist wirklich ganz natürlich“, fuhr er ruhig fort, als befände sie sich nicht mit ihnen hier im Zimmer. „Aber du darfst nicht vergessen, dass der Charakter deiner Schwester moralische Unzulänglichkeiten aufweist.“
    Jane weigerte sich, darauf zu reagieren. Es half nie, zu schreien oder zu widersprechen – jedwede Antwort von ihr untermauerte nur noch seine schlechte Meinung von ihr.
    Aber Emily schüttelte nur den Kopf. „Mir gefällt nicht, was Sie sagen. Es stimmt nicht.“
    „Das verstehe ich, das verstehe ich doch“, sagte ihr Onkel in seiner langsamen, traurigen Art. „Ich werde nicht verlangen, dass du deine Schwester hasst – das wäre völlig unnatürlich, für jedes junge Mädchen und besonders für eines mit deinem Gebrechen.“
    Jane konnte sehen, wie Emilys Hände sich zu Fäusten ballten. Sie sahen vielleicht nicht wie Schwestern aus, aber Äußerlichkeiten waren trügerisch. Und Emily war unfähig, eine Beleidigung Janes einfach zu übergehen.
    Widersprich nicht, Emily. Nick einfach, und lass ihn weiterreden.
    „Das stimmt nicht“, sagte Emily.
    „Du bist überemotional.“ Titus nahm das anstoßerregende Buch und steckte es in eine seiner weiten Taschen. „Und ich denke, ich kenne die Schuldige. Wenn du irgendetwas zum Lesen suchst, meine liebe Emily, so gibt es in meinem Arbeitszimmer reichlich Lesestoff. Du musst nur fragen.“
    Emily schaute ihren Onkel fest an. „Lesestoff in Ihrem Studierzimmer? Da sind doch nur alte juristische Bücher.“
    „Die sehr erbaulich sind“, bemerkte Titus.
    „Was soll ich dann heute Abend lesen? ‚Eine Abhandlung über die Fallstricke der Übereignung‘ klingt überaus vielversprechend, aber wie sollte ich mich dafür entscheiden können, wenn mir gleichzeitig ‚Die gesetzlichen Beziehungen zwischen Kleinkind, Kind und Eltern‘ zur Verfügung steht?“
    Jane machte eine Handbewegung. Hör auf, bitte hör auf. Aber Emily war noch nicht fertig.
    „Ach ja, jetzt erinnere ich mich“, fuhr sie fort. „Die habe ich ja bereits alle gelesen. Weil ich in mein Zimmer eingesperrt bin und es mir nicht erlaubt ist, auszugehen, ja, noch nicht einmal über echte Menschen zu lesen …“
    Oder erfundene.
    Titus stand auf. „Meine liebe Miss Emily“, sagte er, „du bist überreizt. Du besuchst den Gottesdienst in der Kirche, wie es sich für jedes junge Mädchen ziemt. Und Mrs. Blickstall begleitet dich jeden Morgen auf Spaziergänge, die deinem körperlichem Wohlbefinden zuträglich sind.“ Er betrachtete sie unter zusammengezogenen Brauen hervor. „Es passt so gar nicht zu dir, so gefühlsbetont zu sein. Hat es … hat es heute ein Geschehnis gegeben?“
    „Ein Geschehnis?“, wiederholte Emily. „Oh ja. Das Erste, was heute Morgen geschehen ist, war, dass ich aufgewacht bin.“
    Titus runzelte die Stirn. „Liebes Kind. Du weißt, dass ich das Wort nicht in dem Sinn gemeint habe.“
    Emily starrte den Mann an. „Dann sagen Sie doch, was Sie wirklich meinen.“
    „Hattest du … das ist, hattest du das Pech, einen … einen …“
    Emily reckte das Kinn. „Ich hatte einen Anfall.“
    Die Sorge auf seinen Zügen war echt. Er legte Emily eine Hand auf die Schulter. „Armes, armes Kind“, flüsterte er. „Kein Wunder, dass du so überreizt bist. Du solltest schlafen.“
    „Aber Jane hat mir noch gar nicht von ihrem Abend heute erzählt.“
    Titus blickte von Emily auf und musterte Jane nachdenklich. Jane verspürte den Wunsch, ihn hassen zu können. Sie wünschte sich, sie könnte seine guten Wünsche hassen und seine Annahmen und seine unbeirrbare Entschlossenheit, ihre Schwester zu heilen. Aber er war kein schlechter Mensch. Er war nur müde und träge.
    Er seufzte erneut, tief und schwer.

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