Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
diese Narben jemals würde verzeihen können.
Wenn Emily ihr veränderter Tonfall auffiel, so machte sie keine Bemerkung dazu. „Es gibt nichts, was so gut riecht wie ein frisch gedrucktes ungelesenes Buch. Und was das hier angeht … Es ist lehrreich. Wo sonst soll ich etwas über andere Länder erfahren?“
Es gab nichts über Emilys Narben zu sagen, und die Tatsache, dass sie sie hatte, war kein Grund, aufzuhören, sie aufzuziehen. Daher versetzte Jane ihrer Schwester einen Stoß gegen die Schulter und erklärte mit bemüht ernster Stimme: „Du weißt aber schon, dass diese Bücher ausgedacht sind, nicht wahr? Dass jeder Band vermutlich von einem anderen Mann verfasst ist, und höchstwahrscheinlich von einem, der London nie in seinem Leben verlassen hat? Die Geschichten sind nicht lehrreich, sie sind erfunden. Und ich kann mir vorstellen, dass die echten Russen, Chinesen und Japaner ziemlich verstört wären, wenn sie erführen, was die vermeintliche Mrs. Larriger über sie erzählt.“
„Ja, aber …“
Ohne Warnung öffnete sich die Zimmertür und unterbrach die Unterhaltung. Emily sprang auf und stopfte sich das Buch unter den Rock. Jane stellte sich rasch vor ihre Schwester. Aber es war zu spät.
Titus Fairfield blickte von Jane zu Emily und langsamer wieder zurück. Betrübt schüttelte er den Kopf.
„Ach, Mädchen“, sagte er.
Ihr Onkel Titus war fast kahlköpfig und hatte Hängebacken. Zusammen mit seiner tiefen düsteren Stimme ließ ihn das ständig verdrießlich und missbilligend erscheinen – etwas, was ihm zweifellos große Befriedigung verschaffte. Jane vermutete, dass er diese missbilligende Miene vor dem Spiegel einstudierte.
Er dachte vermutlich, dass ihn ein Anflug von Missmut intelligenter wirken ließ.
„Ich lasse mich nicht hinters Licht führen“, erklärte er.
Jane blickte Emily an. Emily erwiderte den Blick.
„Onkel Titus“, sagte Emily „Wie reizend, Sie zu sehen.“
Ihr Onkel streckte auffordernd die Hand aus und klopfte mit dem Zeigefinger der anderen auf die Handfläche. Emily seufzte schwer. Widerstrebend stand sie auf und zog das Buch unter sich hervor. Onkel Titus machte einen Schritt nach vorn und nahm es ihr ab.
„Es ist erbauliche Literatur“, erläuterte Emily. „Eine Moralgeschichte über …“
„‚Mrs. Larriger und …“ Ein kummervoller Laut entwich ihm. „Viktorialand‘.“ Das letzte Wort sprach er aus, als müsse er gegen seinen Willen den Namen eines Bordells nennen. „Jane, meine Liebe, was habe ich dir darüber gesagt, deine jüngere Schwester nicht mit Schundromanen vom rechten Weg abzubringen?“
Jane hätte es gefreut, wenn Emily Mrs. Larriger und ihre unwahrscheinlichen und zudem lächerlichen Abenteuer aufgeben würde. Es wäre nicht schwer, sie davon abzulenken – man müsste ihr nur erlauben, auszugehen. Vermutlich würde es sogar reichen, ihr Spaziergänge an der frischen Luft zu gestatten, die länger als zehn Minuten dauerten.
Sie hatte schon zu oft versucht, ihren Onkel davon zu überzeugen.
„Aber Onkel“, wandte Emily ein. „Es ist eine so lehrreiche Geschichte, voller … interessanter geographischer Fakten.“
„Ein Roman.“
Emily schob entschlossen das Kinn vor. „Eine wahre Geschichte mit dem dünnen Schleier der Fiktion verhüllt, um die Identität Unschuldiger zu schützen.“
Titus Fairfield öffnete das Buch, blätterte ein paar Seiten um und begann laut vorzulesen: „‚Nachdem ich die Seelöwen dazu gebracht hatte, mein Floß zu ziehen und mir Fisch zu fangen, blieb mir nichts anderes übrig, als einen Weg zu finden, die Stimmen der Pinguine nachzuahmen.‘“ Er blickte auf. „Eine wahre Geschichte mit dem dünnen Schleier der Fiktion verhüllt?“
Nein, noch nicht einmal Titus war so leichtgläubig.
Emily hielt sich mit den Händen die Ohren zu. „Sie machen es kaputt. Ich will nicht wissen, was passiert.“
Titus schaute sie an. „Wenn das nötig ist, um dem hier Einhalt zu gebieten. Du warst mir gegenüber ungehorsam, und Ungehorsam zieht Folgen nach sich.“ Damit begann er langsam zum Ende des Büchleins zu blättern. „Es wird dir nicht erlaubt sein, die Früchte deines Eigensinns zu genießen. Wenn du das Ende nicht hören willst, dann …“ Er beugte den Kopf und begann zu lesen. „‚Kapitel siebenundzwanzig. Nachdem die Haie gekommen waren …‘“
„Lalala“, sang Emily und übertönte seine Worte. „Lalala.“
Er blieb stehen und schloss das Buch, seine Miene noch grimmiger
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