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Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Titel: Die Erbin und ihr geliebter Verraeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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festgesteckt hatte.
    Das war also der Grund, weswegen sie diesen Schauer gespürt hatte. Es waren nicht seine Augen. Es war nicht seine Größe – und sie würde auf keinen Fall über seine Schultern nachdenken. Es war, weil er wusste, wie es war, außen zu stehen, abseits der anderen. Er wusste es, und sie hatte es ihm nicht sagen müssen.
    „Das ist die Wahrheit?“, gelang es ihr schließlich zu fragen. „Das ist die Wahrheit, die Sie mir versprochen hatten?“ Es war mehr, als irgendwer sonst ihr gegeben hatte.
    Er legte den Kopf schief und setzte seine Brille wieder auf.
    „Es sind fünfundneunzig Prozent der Wahrheit“, sagte er.
    Er nickte ihr zu und dann, bevor ihr darauf irgendeine Erwiderung einfallen konnte, tippte er sich in einer Art Salut an die Stirn und ging.

    E S WAREN DIE FEHLENDEN fünf Prozent der Wahrheit, die Oliver keine Ruhe ließen. Die Luft auf der Veranda fühlte sich auf seinen Wangen kalt an. Hinter sich konnte er die Klänge eines Duetts auf dem Piano vernehmen, das die unvergleichlichen Johnson-Schwestern vortrugen.
    Niemand hatte irgendetwas gesagt, als er aus dem Musikzimmer auf die Veranda geschlendert war, obwohl es hier wirklich kalt war.
    Er war ihnen herzlich egal, und er erwiderte ihre Gefühle nach Kräften.
    Er wollte Bradentons Angebot nicht annehmen. Er hatte sich gesagt, dass er einen anderen Weg finden würde, den Mann zu überzeugen. Vielleicht war das der Grund, warum er mit Miss Fairfield so gesprochen hatte, wie er es getan hatte – um sich zu beweisen, dass er es nicht tun würde.
    Aber er hatte neulich Nacht, als Bradenton gefragt hatte, nicht Nein gesagt.
    Und er hatte sie zum Teil auch wegen Bradentons Vorschlag auf der Straße gegrüßt. Ein Teil von ihm – ein unnatürlicher Teil – hatte überlegt, wie man es bewerkstelligen könnte. Er dachte an ihre Augen, wie sie eben gewesen waren, so groß und rund. Ihre Lippen leicht geöffnet, als wollte sie ihr Einverständnis flüstern. Ihre Hände eng verschlungen. Er hatte den Schlüssel zu Miss Fairfield gefunden und wusste es.
    Bradenton hatte recht. Er könnte sie brechen. Er wusste genau, wie er es angehen musste.
    Es war diese Erinnerung – eine, die ihm einen unangenehmen Schweißausbruch bescherte –, die ihn in die Kälte getrieben hatte. Es war möglich, jemanden zu brechen, der allein war. Es war leicht, jemanden zu brechen, wenn man ihm erst Unterstützung gewährte, ihm erlaubte, sich stützend an einen zu lehnen … und ihm dann jäh alles entriss.
    Oliver hatte keine Antwort darauf, weshalb er mitten in einer Januarnacht hier draußen stand. Die Eiseskälte brachte seinen Gedanken keine Klarheit. Kalter Stein, kalte Mauern umgaben ihn in dieser kalten Stadt. Die Veranda war kaum mehr als ein rechteckiger Fleck, nur ein paar Schritt breit. Er war auf dem Land aufgewachsen, das hier war praktisch gar keine freie Fläche.
    Kaum eine Überraschung. Cambridge vermittelte ihm stets das Gefühl, eingeschlossen zu sein.
    Die Tür nach draußen öffnete sich hinter ihm. Er drehte sich nicht um.
    Miss Fairfield kam und stellte sich neben ihn.
    Ihre Perlen klackerten, wenn sie sich bewegte, der Brokat schimmerte im schwachen Licht in einer grässlichen Imitation von Militärlitze. Es war eines der hässlichsten Kleider, die er je gesehen hatte, und sie trug es wie ein Schutzschild, das es ja in Wahrheit auch war. Sie legte die Hände auf die Balustrade, umklammerte sie, sagte aber kein Wort. Ihr Atem ging ungleichmäßig, als sei sie drei Treppen hinaufgerannt. Als ob die bloße Vorstellung, jemandem zu vertrauen, ihr Herz rasen ließ.
    Das sollte es auch. Sie sollte gehen. Aber das sagte er nicht. Er betrachtete sie, beobachtete, wie sie ihn beobachtete.
    „Und, meine Dame?“, fragte er. „Was soll es sein?“
    Sie holte ein weiteres Mal tief Luft. „Ich zähle“, sagte sie schließlich.
    Es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, worüber sie vorhin gesprochen hatten.
    Sie rang die Hände. „Ich zähle jeden Tag, der vergeht.“
    Er sagte nichts. Er wollte sie trösten, aber das schien grausam angesichts dessen, was noch zwischen ihnen passieren konnte.
    „Ich habe sogar Angst, auch nur mit Ihnen zu sprechen. Wenn ich den Mund öffne, habe ich Angst, was wohl herauskommen mag. Am Ende rede und rede ich und kann womöglich gar nicht mehr aufhören. Es ist zu viel.“
    Er schaute sie an. „Habe ich mich wie ein Mann angehört, der sich nur über wenig zu beklagen hat?“
    „Nein, nein.“

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