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Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Titel: Die Erbin und ihr geliebter Verraeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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ihrem Onkel mit einem seiner Gesetzesbücher den Schädel einschlug – war noch weniger angeraten. Das sorgte nur dafür, dass sie sich zittrig, schuldbewusst und fast fieberhaft rastlos fühlte. Wenn sie sich so fühlte, betrachtete sie ihn am Frühstückstisch und malte sich aus, das Regal hinter ihm nach vorne zu kippen.
    Auf solche Tagträume war sie beileibe nicht stolz. Sie ging hocherhobenen Hauptes, nickte vorüberkommenden Bauern zu. Ihr Kleid war ein wenig zu fein, als dass sie als etwas anderes als eine junge Dame durchgehen würde, die ihrer Anstandsdame entwischt war. Aber die Leute sahen nur, was in ihr Weltbild passte. Sie schritt aus, folgte der Straße, strich mit den Fingerspitzen über Zaunpfähle und Steinmauern und genoss den Wind auf ihren Wangen, den Geschmack der Freiheit. Es war kalt. Der Wind fuhr scharf durch ihre Handschuhe, und ihr Umhang war nicht dick genug, um die schlimmste Kälte abzuhalten, aber das war ihr gleich.
    Was, wenn etwas passiert? Die betrübte Stimme ihres Onkels schwebte als Erinnerung herab. Er hätte die Worte eigentlich in Stein meißeln und über den Kaminsims hängen können. Was, wenn etwas passiert? Er machte sich schon seit Jahren Sorgen, dass ihr etwas passierte , und das mit dem Ergebnis, dass rein gar nichts geschah.
    Heute war sie entschlossen, durch Grantchester zu spazieren. Sie hatte die Hauptstraße des Dorfes während ihrer verstohlenen Streifzüge schon ein halbes Dutzend Mal gesehen, und wenn ein Besuch im Dorf vielleicht auch nicht mit Mrs. Larrigers Abenteuern zu vergleichen war, war es besser als nichts. Sie würde spazieren gehen, lächeln und niemand würde wissen, dass sie den schrecklichen Klauen von … von …
    Nicht Piraten. Nicht Walfängern. Nicht dem Zaren von Russland.
    „Ich bin den schrecklichen Klauen eines Mittagsschlafes entkommen“, verkündete sie der Straße.
    Emily kam an einem Bauernhaus vorbei, dann noch einem und schließlich an einer Getreidemühle – ein Zeichen dafür, dass es bis zum Dorf nicht mehr weit war. Schüler lernten fleißig in einer Grundschule. Sie nickte einem Schmied zu, der auf seinem Hof die Hufe eines Pferdes begutachtete.
    Als sie den Dorfplatz erreichte, spielte sie mit dem Gedanken, sich beim Obsthändler einen Apfel zu kaufen, einfach um zu beweisen, dass sie es konnte. Aber es schien ihr unklug, eine ihrer kostbaren Münzen auf eine schrumpelige Frucht zu verschwenden.
    Sie wollte so wenig – nur die Gelegenheit, das zu tun, was alle taten. War das zu viel verlangt?
    Was, wenn etwas passiert?
    Das war ein bitterer Gedanke – dass sie alles fürchten musste, nur weil etwas passieren könnte.
    Plötzlich merkte Emily, dass nicht nur der Gedanke bitter war. Es war der Geschmack in ihrem Mund.
    Es war nicht wirklich ein Geschmack. Jahrelange Beobachtung hatte sie das gelehrt. Es war eine zunehmende Bitterkeit, die sich in ihr ausbreitete, bis sie sie nicht nur auf der Zunge schmeckte, sondern auch in ihren Wangen und im Magen – in Teilen ihres Körpers, die von Rechts wegen überhaupt gar nichts schmecken konnten. Der Geschmack lag irgendwo zwischen ranzigen Mandeln und faulen Eiern.
    Vertraut. Ärgerlich. Und was den Zeitpunkt anging – der war schlicht unmöglich. In einer Minute würde Emily anfangen, schlechte Gerüche zu riechen. Und kurz darauf …
    Etwas würde passieren. Genau das, was ihr Onkel befürchtete, der Grund, weshalb es ihr nicht erlaubt war, nach draußen zu gehen.
    Sie hatte keine Zeit, die Stadt zu verlassen und zu den Feldern vor der Stadt zu gehen, und wenn sie vor der Schule zusammenbrach und ihre Beine zu zucken begannen, würde sie ganz gewiss jemand sehen. Sie würden fragen, wie sie ihr helfen konnten, darauf bestehen, sie nach Hause zu bringen. Ihr Onkel würde es erfahren und …
    Und sie würde nie wieder das Grundstück verlassen dürfen. Es war keine Zeit zu überlegen oder eine Entscheidung zu treffen.
    Sie überquerte den Dorfplatz und betrat die Dorfwirtschaft.
    Tu so, als gehörtest du hierher.
    Sie schluckte den Geschmack herunter, lächelte, als die verräterischen Gerüche ihre Sinne übermannten und den Duft frisch gebackenen Brots und Suppe faulig überlagerten.
    Sie schlüpfte auf die nächste Bank und strich ihre Röcke unter den Tisch. Hoffentlich würde niemand sie bemerken, hoffentlich würden die paar Minuten, die ihr Anfall immer dauerte, vergehen, ohne dass jemand davon erfuhr. Hoffentlich …
    „Miss“, sagte eine freundliche Stimme von der

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