Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
offen war.
„Amüsant wie immer, Bradenton“, sagte Oliver stattdessen. „Aber es besteht keine Notwendigkeit, mit einem Lachen abzutun, was ich Ihnen mitzuteilen versuche. Und das ist …“
Bradenton lachte. „Lassen Sie es, Marshall. Ich will nicht mit Ihnen über Ihre großartige Reform reden.“
Die Kutsche kam um die Ecke, ein dunkler Geist im Nebel.
Bradenton wandte sich an Oliver. „Sie denken über meinen Vorschlag nach. Sie können gar nicht wissen, wie angenehm ich es finde, zu wissen, dass ich Sie letztlich doch richtig eingeschätzt habe.“
Olivers Hand verkrampfte sich, die Fingerknöchel traten hell hervor.
„Was also hatten Sie heute Nacht mit ihr vor? Ich nehme an, wenn Sie sie verletzen wollen, indem Sie sie in sich verliebt machen und sie dann fallen lassen, wird es genügen. Trotzdem scheint es übertrieben schäbig.“
„Sie können niemanden verletzen, den Sie nicht kennen“, bemerkte Oliver. Und Sie kenne ich gut . „Manchmal kann man jemanden am leichtesten treffen, wenn man ihm erst das Gefühl vermittelt, auf seiner Seite zu stehen, und ihm dann die Unterstützung plötzlich entzieht.“
Er hätte vielleicht nicht Worte mit solch doppelter Bedeutung benutzen sollen. Aber Bradenton lachte nur.
„Das ist der Grund, warum ich will, dass Sie sich darum kümmern. Ich mache Ihnen keine falschen Komplimente, Marshall. Ich gebe zu, ich habe ein persönliches Interesse daran, Miss Fairfield so unglücklich zu sehen, dass sie nicht mehr in Gesellschaft geht.“ Seine Lippen verzogen sich verächtlich. „Aber Sie sind gerissen und viel zu ehrgeizig. Ich werde Ihnen keinen Steigbügel halten, bevor ich mir Ihrer nicht ganz sicher bin.“
„Eine einzige Entscheidung von mir wird Ihnen diese Sicherheit geben?"
„Nein.“ Bradenton zuckte die Achseln. „Eine werden Sie als Unfall abtun. Zwei und Sie beginnen, an sich zu zweifeln. Drei hingegen …“ Er machte eine Pause, als fiele ihm etwas ein. „Drei, und Sie reden sich ein, dass es recht von Ihnen war, so zu handeln, wie Sie es getan haben. Etwas dreimal zu tun ändert den Charakter eines Mannes.“
„Also wird es weitere Aufgaben geben.“ Er konnte es nicht tun. Allein schon daran zu denken sorgte dafür, dass ihm schlecht wurde. Es brachte alte Erinnerungen hervor, Erinnerungen, die schon längst dorthin verschwunden waren, wo sie hingehörten.
Aber Bradenton schüttelte den Kopf. Seine Kutsche blieb vor ihm stehen, und ein Lakai sprang herunter, um den Schlag zu öffnen. Bradenton machte einen Schritt darauf zu. „Mehr bedarf es nicht“, erklärte er leichthin. „Meiner Zählung nach sind Sie bereits bei zwei.“
Kapitel 5
E S GAB DREI F ERTIGKEITEN , die Miss Emily Fairfield in ihren gegenwärtigen Lebensumständen für unverzichtbar hielt: lügen, schmuggeln – und am wichtigsten von allen – klettern. Es war Letzteres, was sie soeben nutzte.
Nach einem öden zehn Minuten dauernden Spaziergang durch den Garten um die Mittagszeit, war sie zu einem Nachmittagsschläfchen in ihr Zimmer gebracht worden, als sei sie eine Vierjährige.
Sie wartete, bis es im Haus still wurde, die Dienstboten ihren Arbeiten in anderen Teilen des Gebäudes nachgingen oder auf dem Markt einkaufen waren. Dann zog sie sich rasch um und kletterte aus ihrem Fenster und die Außenwand hinunter. Sie wollte fort – egal wohin, solange es nur nicht hier war.
Sie hatte einen verbotenen Roman in der einen Manteltasche, ein Taschentuch in der anderen und war entschlossen, jede Minute der beiden vollen Stunden ihres albernen Mittagsschlafes draußen zu verbringen.
Titus Fairfields Haus befand sich am Stadtrand von Cambridge. Es war ein tristes zweistöckiges Gebäude aus grauem Stein, umgeben von kümmerlichen Büschen. Sie zog die Röcke enger um sich, um den dornigen Zweigen des Stachelbeerstrauches auszuweichen, zwängte sich durch einen schmalen Spalt in der rückwärtigen Hecke und erlangte die Freiheit des Kieswegs, der über Felder und Hügel von der Stadt wegführte.
Das hier war ein Verhalten, das Onkel Titus dumm nennen würde. Allein aufzubrechen, ohne die Begleitung einer Anstandsdame, schnell zu gehen mit ausholenden Schritten statt der Trippelschritte, die zu ihrer Stellung als vermeintliche Invalidin passten. Stundenlang zu gehen statt nur Minuten.
Und vielleicht hatte er recht. Ein wenig. Aber die Alternative – im Bett zu liegen, während es draußen noch hell war, an die Decke zu starren und sich vorzustellen, wie sie
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