Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
wollte dazwischen gehen, weil ich das immer tat. Aber Bradenton war in der Nähe, und er sagte: ‚Marshall, alles, was sie wollen, ist, dass du aufhörst, sie herauszufordern. Geh weg, dann lassen sie ihn in Ruhe.‘“ Er schaute auf. „Ich denke, er hätte mir an dem Punkt jeden x-beliebigen Grund nennen können, und ich hätte zugegriffen.“
„Ich schließe daraus, dass Bradenton nicht recht hatte?“
„Oh doch“, antwortete Oliver leise. „Er behielt recht. Diese Jungen haben mich nie wieder belästigt. Was Clemons angeht … Ich weiß nicht, was sie mit ihm angestellt haben, aber nachdem er die Krankenstation verlassen hatte, kam er nicht wieder.“
Sie schnappte nach Luft.
„Also, ja, Miss Fairfield.“ Jetzt blickte er sie an. „Sie glauben vielleicht zu wissen, wer ich bin. Was ich bereit bin zu tun. Ich sage mir die ganze Zeit, dass ich nicht so ein Mann bin. Dass ich nicht so schrecklich bin, jemand anderem zu schaden. Aber ich weiß es leider besser.“
Sie senkte den Blick. „Sie können sich doch nicht die Schuld daran geben, was die anderen Jungen getan haben.“
„Es war nicht das einzige Mal.“ Seine Stimme war rau. „Jeder in meiner Lage, jeder, der ohne Macht und Einfluss geboren ist, der mehr anstrebt … Vertrauen Sie mir, ich bin nicht dort, wo ich jetzt stehe, indem ich stets meinen Prinzipien treu geblieben bin. Ich habe gelernt, den Mund zu halten, wenn das nötig ist, zu tun, was ein Mann mit Macht von mir verlangt, nur, weil er es verlangt. Ich schätze mich selbst glücklich, dass ich so wenig Schaden genommen habe. Täuschen Sie sich nicht, Miss Fairfield. Ich kann sie verletzen. Sogar sehr.“
Einen Moment lang sagte sie nichts. Aber der Ausdruck in seinen Augen, dieses kalte ernste Licht … Er meinte jedes Wort davon. Seine Hand fühlte sich klamm in ihrer an, aber sie drückte sie.
„Warum erzählen Sie mir das alles?“
„Weil ich denke, dass es nicht richtig ist, was Ihnen geschieht, Miss Fairfield.“ Seine Stimme klang angespannt. „Weil ich mir nicht trauen kann, egal, wie oft ich mir sage, dass ich so etwas niemals täte. Der Köder ist einfach zu verlockend. Ich gebe Ihnen die Chance, wegzulaufen, bevor mein Ehrgeiz meine Ehre überstimmt.“
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Was er da vorbrachte, ergab keinen Sinn. Es ergab keinen Sinn, es sei denn …
Sie wandte sich zu ihm um. „Sind Sie immer so brutal ehrlich?“, verlangte sie zu wissen. Dabei kannte sie die Antwort darauf bereits. Sie hatte ihn in der Gruppe mit den anderen gesehen – lächelnd, sich unterhaltend. Er schien immer zu wissen, was er sagen sollte, damit niemand ihn schief ansah. Er wusste, wie man dazugehörte. Er konnte nicht immer ehrlich sein.
„Sie sind etwas Besonderes.“ Seine Stimme war leise. „Ich konnte Clemons nicht leiden. Aber das, was ich von Ihnen weiß, mag ich.“
Sie schaute auf, und er hob seine freie Hand und fuhr ihr ganz sacht mit einem Finger über die Wange.
„Es gibt nur ganz wenige Leute auf dieser Welt, denen ich die volle Wahrheit sagen kann. Ich kann es mir nicht leisten, einen davon zu verlieren.“
Es war kein Schauer, den sie fühlte. Ein Schauer lief nur über die Haut, war nur ein Aufrichten von Härchen in ihrem Nacken. Das hier nahm sie mit dem ganzen Körper wahr. Als ob die vergangenen Jahre ihre inneren Organe zu einem Knäuel von Gefühlen und Empfindungen verhärtet hätten, und er sie eben dazu überredet hatte, sich zu entspannen. Sie merkte, dass sie sich zu ihm lehnte, ganz leicht. Sich wünschte, dass der Moment andauerte.
Er löste sich von ihr, ließ ihre Hand los. Ihre Finger waren plötzlich kalt. „Sehen Sie“, bemerkte er, „selbst jetzt tue ich es.“ Seine Stimme war leise, tief, fast eine Liebkosung. „Ich erzähle Ihnen alles, aber ich mache es nur schlimmer. Sie sollten nicht zulassen, dass ich Sie berühre, Miss Fairfield.“
Sie wollte nicht, dass er aufhörte. Sie schluckte. „Oh“, sagte sie. „Gut.“ Sie wandte sich ab, unsicher, was sie davon halten sollte.
„Jetzt sind Sie verärgert. Gut.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich vermute, das sollte ich sein. Aber ich bin es nicht wirklich. Es überrascht mich nicht, dass Sie mich hintergehen wollen. Alle anderen tun das bereits.“ Sie lachte wieder, aber das Lachen klang selbst in ihren eigenen Ohren ein wenig zu hell. Zu sehr wie nervöses Gekicher und so gar nicht wie die beginnende Übelkeit in ihrem Magen.
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