Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
wach, und sein noch in Träumen befangener Verstand ließ sich nicht aufhalten. Eine seltsame Sicherheit erfüllte ihn. Es war von Jane. Sie brauchte ihn. Er würde zu ihr gehen. Er würde sie letztlich doch heiraten müssen, um sie vor irgendeinem unbekannten, aber schrecklichen Schicksal zu bewahren.
London war egal. Dass es unmöglich war, war egal. Die verheerende Wirkung auf sein Leben war egal.
Er rieb sich die Augen, fand seine Brille und las die Nachricht.
Sie war nicht von Jane. Natürlich war sie nicht von Jane. Er weigerte sich, enttäuscht zu sein, dass sein Leben nicht in Scherben lag. Das Telegramm war von seiner Mutter.
FREE FORT.
PLANT TEILNAHME AN DEMONSTRATION UM GEGEN DEN AUSSCHLUSS VON FRAUEN VOM WAHLRECHT ZU PROTESTIEREN.
FINDE SIE.
Seine schläfrigen, sinnlichen Phantasien lösten sich in Luft auf, und er las die Nachricht noch einmal, dieses Mal mit wachsendem Entsetzen. Er rief nach dem Fahrplan und fluchte. Der Postzug musste schon vor ein paar Stunden in Euston Station eingetroffen sein.
Free war bereits hier, allein in London. Sie wollte an einer verbotenen Demonstration teilnehmen, zusammen mit mehreren Hunderttausend wütenden Männern, Männer, die auf unzureichend geschulte Polizeikräfte stoßen würden, die wegen der Menschenmassen verrückt vor Angst sein mussten. Und so wie er Free kannte, würde sie all diesen Männern sagen, dass sie ebenfalls das Recht einforderte zu wählen und dass sie es ihr besser zugestehen sollten.
„Heilige Mutter Gottes“, fluchte Oliver.
Seine Schwester marschierte in den sicheren Tod.
Kapitel 17
A N EINEM T AG wie heute hatte Oliver eigentlich damit gerechnet, jede Menge Polizisten auf Patrouille zu sehen, die jede Straßenecke überwachten. Aber als er auf die Straße hinaustrat, gab es kein Anzeichen von den eigens eingestellten Konstablern, von denen in den letzten Tagen so viel die Rede gewesen war. Genau genommen gab es überhaupt kein Anzeichen von Polizeipräsenz.
Stattdessen waren bereits Hunderte auf den Straßen unterwegs. Das Gedränge wurde dichter, je mehr er in die Nähe des Hyde Park kam. Und da erst sah er die ersten Sicherheitskräfte des Tages: Zwei Konstabler standen eher lethargisch an dem Tor zur Grünanlage. Sie unternahmen keinen Versuch, die Massen daran zu hindern, in den Park zu strömen. Vielmehr gratulierte der eine sogar den Leuten, die hineingingen. Sie schienen einen halbherzigen Versuch zu unternehmen, die Straßenhändler davon abzuhalten, aus dem Ereignis Profit zu schlagen – und trotzdem sah Oliver einen Pastetenverkäufer an ihnen vorbeischlüpfen, wobei dieser den beiden als stumme Zahlung je eine Pastete zusteckte.
Er konnte sich ohnehin nicht vorstellen, wie sie diejenigen hätten herausfiltern wollen, die demonstrieren wollten. Eine Gruppe Damen zu Pferde war gekommen, um das bunte Treiben zu beobachten. In der Nähe saßen Herren und ließen sich von Dienstboten mit Wein und Gebäck versorgen. Wenn es einen Zusammenstoß zwischen der Reformliga und der Polizei gäbe, hatte er jemanden neulich sagen hören, dann wolle er einen Platz in der ersten Reihe. Oliver hatte das für einen Scherz gehalten, aber offenbar war es vollkommen ernst gemeinte Dummheit gewesen.
Der Hyde Park erinnerte mehr an einen Jahrmarkt als an eine offene Feldschlacht. Es waren bereits Tausende anwesend. Wie sollte er in diesem Gedränge Free finden?
Er durchstreifte ratlos den Park und hoffte, dass sich niemand daran störte, wenn er Fremde anstarrte, bevor ihm auffiel, dass er nur einer von Unmengen Schaulustiger war. Niemand achtete auf ihn.
Er hatte befürchtet, es könnte hässlich werden. Er wusste nur zu gut, dass ein solches Gedränge schnell aus dem Ruder laufen konnte. Aber bislang verlieh das Fehlen blau uniformierter Gesetzeshüter der ganzen Veranstaltung den Anstrich eines Volksfestes. Der vorhergesagte Zusammenprall zwischen den Organisatoren der Demonstration und der Regierung schien im Moment sehr unwahrscheinlich, und die Erleichterung aller darüber war fast greifbar.
Als die Mitglieder der Reformliga aufzutauchen begannen, waren sie bester Laune, wie Helden, die siegreich aus der Schlacht zurückkehren. Sie kamen in Gruppen, winkten der Menge zu und stimmten Sprechchöre an. Sobald Oliver die Gelegenheit erhielt, begann er Fragen zu stellen. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Haben Sie eine Frau gesehen, die über allgemeines Wahlrecht spricht?“
Das trug ihm einen seltsamen Blick ein.
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