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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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anblickte.
    »Ich freue mich«, sagte sie und lachte etwas zu mädchenhaft. »Ich kenne Menschen aus aller Welt. Aber Sie sind der erste Russe, mit dem ich zu Abend esse.«
    Er hat Manieren – das war das erste, was Lyda auffiel. Warum auch nicht, dachte sie wütend. Warum machen sich alle von den Russen ein so falsches, total schiefes Bild?! Muß ein Russe mit den Fingern essen, nach jedem Bissen rülpsen, vom Aal auch die dicke Haut mitessen, den Wodka aus Wassergläsern trinken, das Glas an die Wand werfen? Warum solch ein verzerrtes, gemeines Bild?! Was sie bisher über Russen gehört hatte, war nicht viel anders gewesen. Asiatische Fratzen, brutale Wilde aus der Taiga, rücksichtslose Welteroberer. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die sie in der Schule, im Internat in England, gehört hatte: Da war einmal ein französischer Gesandter zu Iwan dem Schrecklichen gekommen und hatte vor dem Zaren seinen Hut nicht abgenommen. »Ich nehme meinen Hut nur vor Gott und meinem König ab!« soll er gesagt haben. Und Iwan hatte genickt, einen Wink gegeben – und dem französischen Gesandten wurde sein Hut mit dicken Nägeln auf dem Kopf festgenagelt. Natürlich hat er das nicht überlebt.
    Das war Rußland, wie Lyda es kannte. Ein Rußland, wie es immer und immer wieder durch die Zeitungen und Bücher spukt: Das rote Geheimnis des Ostens. Die unbekannte, für ihre Umwelt tödliche Größe. Und ein Russe war nach diesen stereotypen Vorstellungen allemal ein Mensch, der sich zwar wie ein Mensch bewegte, wie ein Mensch gekleidet war und in menschlichen Behausungen lebte – der aber sonst mit Menschlichkeit nicht viel zu tun hatte.
    Sie beobachtete Lobow, wie er seine Muschelcremesuppe löffelte, wie er die gegrillten Langostinos sicher und geradezu elegant auspellte, wie er den in Blätterteig eingebackenen Loup-de-mere öffnete und zerteilte und den herben Tischwein zuerst im Glas anroch, dann einen Schluck im Gaumen drehte, verharrte, Geschmack, Blume und Kältegrad prüfte und abschließend nickte. »Très bien, Monsieur.«
    Und der Oberkellner, der selbstverständlich den Tisch von Lyda Penopoulos bediente, goß erfreut ein, den linken Arm vorschriftsmäßig auf den Rücken gelegt.
    »Sie essen gern?« fragte Lyda. Sie erwiderte Lobows erhobenes Glas mit einem Prost und nahm einen kleinen Schluck.
    »Ich esse gern gut.« Lobow lächelte sie an. Ein sonniges Jungengesicht, wie sie es seit langem nicht mehr gesehen hatte, eigentlich nicht mehr seit dem Tod ihres Bruders Perikles. Auch er hatte so unbefangen, so frei, so ungehemmt, so sonnig lächeln können. Alle anderen Männer, die sie kannte, lächelten zwar auch, aber es war ein Glamourlächeln, ein berechnendes Verziehen der Lippen, ein eitles Gefallenwollen um jeden Preis, auch wenn das Lächeln diesen Gesichtern eine senile oder gar blöde Note verlieh. Der Russe Lobow lächelte aus dem Inneren heraus. Nicht nur seine Hautfalten lächelten – auch sein Herz.
    Sie fand das wundervoll und aß weiter. Ein paarmal fiel der Seewolf von ihrer Gabel, weil ihre Finger leicht zitterten. Verdammt, dachte sie. Verflucht noch mal! Lyda, reiß dich zusammen. Dir gegenüber sitzt ein Russe! Ein Russe! Laß die Alarmglocke schrillen …
    »Wo kommen Sie her?« fragte sie, um die lahmende Unterhaltung in Schwung zu bringen. Über Abstammung zu reden, ist immer gut. Das ist ein variabler Gesprächsstoff.
    »Aus Moskau.«
    »Direkt aus Moskau?«
    »Geboren bin ich in Tianeti, einem kleinen Ort nördlich von Tiblisi, in Grusinien. Meine Muter ist Kaukasierin. Aber mit zwei Jahren kam ich nach Moskau …«
    »Ihre Mutter lebt noch?«
    »Und wie sie lebt!«
    »Sie muß eine schöne Frau sein.«
    »Warum?«
    »Man sagt, die Kaukasier sind die schönsten Menschen Rußlands. Die Franzosen des Ostens.«
    Lobow nickte und trank wieder einen Schluck Wein. »Meine Mutter ist sehr schön«, sagte er. Er stocherte in dem Blätterteig herum und bekam ein trauriges Kindergesicht. »Sie ist eine wunderbare Frau.«
    »Sie lieben Ihre Mutter sehr?«
    »Wenn es nicht so dramatisch klingen würde: Ich bete sie an.«
    »Ich verstehe.« Sie blickte starr auf ihren Teller. »Ich kenne das, Monsieur Lobow.«
    »Am Telefon sagten Sie: Genosse Lobow. Das klang gut.«
    »Also gut: Genosse Lobow.« Sie lächelte schwach. »Auch ich hatte Menschen, die ich anbeten durfte.«
    »Ihren Vater Stavros?«
    »Ja. Und meine Mutter Genia. Und meinen Bruder Perikles, obgleich ich ihn oft haßte, weil er immer die

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