Die Erbin
Liegestuhl liegt und sich sonnt. Aber Papa laß leben, nimm ihn nicht mit! Nur sie. Nur sie. Ich liebe meinen Papa.
»Was träumst du wieder, Lyda?« sagte die Gouvernante. Lyda war es, als schütte jemand eiskaltes Wasser über sie aus. Sie duckte sich.
»Wir machen jetzt Französisch …«
»Nein!« sagte Lyda leise.
»Doch! Heute ist Montag. Französisch.«
»Ich will nicht!«
»So schaffen wir das Pensum nie, Lyda! Wir sind schon drei Lektionen im Rückstand.«
Das Kind fuhr herum. Erschrocken wich die Gouvernante zurück. Welche Augen! Die verzerrten Züge! Welche Verwandlung! »Ich will nicht!« schrie Lyda. »Hören Sie, Mademoiselle Georgette, ich will nicht! Gehen Sie weg! Weg! Weg!«
Sie griff nach ihren von Dior angezogenen Puppen und schleuderte sie gegen die Gouvernante. Mademoiselle Georgette entwich nach hinten, klinkte die Tür auf und flüchtete in den breiten Gang. Dann warf sie die Tür zu und rannte in ihre Kabine. Mit bebenden Fingern holte sie ihr Berichtsbuch aus einer Schublade und trug mit dem Kugelschreiber ein:
›Montag: Keine Französischstunde. Lyda bewarf mich mit ihren Puppen und benahm sich wie eine Verrückte. Sie schrie und tobte. Als ich hereinkam, saß sie am Fenster, starrte ins Meer und schien ganz weit weg zu sein.
Woran hat sie gedacht? Was geht in diesem Kind vor? Ich werde es nie begreifen, obwohl ich jetzt fast schon ein Jahr täglich um sie bin. Sie ist bereits mit neun Jahren ein Fall für den Psychiater. Ihre Seele ist zerstört. Sie hat alles, und doch fehlt ihr alles. Ein Ort, von dem sie sagen kann: Hier bin ich zu Hause. Jeder Vogel, der gemeinste Spatz, ist glücklicher als sie: Er hat sein Nest! Was hat sie? Riesige Apartments, Villen, Schlösser, die schönste Privatjacht der Welt. Aber keine Heimat.
Armes, reichstes Mädchen der Welt …‹
Am Nachmittag lag Irena Palvietti auf dem Sonnendeck und räkelte sich in den warmen Strahlen. Sie trug einen schwarzen Bikini und eine riesige Sonnenbrille. Stavros hockte neben ihr auf einem Schemel, dicklich, mit vom Wind zerzausten Haaren, mit stämmigen, etwas krummen Beinen. Die Nymphe und der Satyr. Sie tranken wieder Champagner, vermischt mit Orangensaft. Ab und zu lachte die Palvietti, es klang wie eine ausgesungene Koloratur.
Stavros erzählte Witze. Das konnte er vorzüglich, jedenfalls besser, als geistvolle Konversation zu treiben oder sich mit der Palvietti über Musik zu unterhalten. Da war er genauso unterlegen wie in der Literatur. Wenn einer der großen Schriftsteller an Bord war, wie etwa der uralte Somerset Maugham, der nur über hochgeistige Probleme philosophierte, dann saß Stavros ziemlich einsilbig herum. »Ich hatte nie Zeit, mich um Bücher zu kümmern«, sagte er. »Was ich gelesen habe, waren Ladepapiere und Abrechnungen. Ich mußte Geld machen. Das ist die einzige Sehnsucht eines Jungen, der in den Slums mit Ratten spielt. Jetzt ist es zu spät. Wozu auch? Wenn ich eine Oper haben will, kann ich mir eine kaufen! Genauso, wie ich mir das Spielkasino von Monte Carlo kaufen werde.«
Lyda kam an Deck, blickte hinüber zu Stavros und der Palvietti und ging zum Bug des Schiffes. Hier setzte sie sich auf den weißlackierten Behälter, der die Rettungsinsel enthielt, und zog die Knie an. Das Lachen der Sängerin klang bis zu ihr, und bei jeder perlenden Koloratur zog Lyda die Schultern zusammen, als friere sie.
Fünf Tage später kam in Venedig Winston Churchill an Bord.
Lyda stand am Fallreep und machte einen Knicks, als der große alte Mann ihr die Hand gab und ihr die Wange tätschelte. Er trug einen hellbeigen Leinenanzug, ungebügelt und viel zu weit, ein offenes weißes Hemd und Leinenschuhe. Auf dem großen runden Schädel wippte ein breitkrempiger Strohhut im warmen Wind. Lady Churchill sah so aus, wie man sich eine alte englische Lady vorstellt. Auf den weißen, kleingelockten Haaren balancierte eine runde, mit Spitzen besetzte rosa Kappe. Das Kleid war gekräuselt, auch das Stehbörtchen am Kragen, die Börtchen am Ärmel, die Fältchen im Gesicht. Sie gab Lyda einen Kuß und sagte zu Stavros: »Sie sieht Ihnen ganz ähnlich! Nein, so etwas! So müssen Sie als Kind auch ausgesehen haben.«
Seine Staffelei war für Churchill das wichtigste. Er bestimmte selbst den Standplatz: unter dem Sonnensegel, in Fahrtrichtung. Dann saß er mit gespreizten Beinen in einem breiten Korbsessel, rauchte seine dicken Havannazigarren und trank ein großes Glas Mineralwasser. Die Zeit, da er Whisky
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