Die Erbin
Gladiatoren der Neuzeit, die nicht mehr von Löwen und Panthern zerfleischt werden, sondern sich mit 300 km Stundengeschwindigkeit in die Luft katapultieren oder in einer explodierenden Teerwolke erbärmlich ersticken oder verbrennen. Marcel liebte nur seinen Wagen, hieß es in der Branche. Er denkt nicht an Triebe, nur ans Getriebe.
Lafond rührte in seinem Cocktail. Die Kapelle spielte jetzt einen Boogie. Aus den vornehmen Herrschaften wurden zuckende Gestalten, wie von epileptischen Krämpfen durchrüttelt, mit wackelnden Köpfen, zitternden, verkrampften Gliedmaßen und verzückten, leicht geröteten Gesichtern. Dekolletés rutschten, Smokingschleifen verschoben sich, Hemden wurden durchgeschwitzt, Frisuren lösten sich auf. Welche Stimmung!
Hier war nun Jérome Marcel von den Regeln des Tanzens befreit. Er löste sich von Lyda, verdrehte den Oberkörper, stieß einen Laut aus, der wie »Uff!« klang, und wackelte in den Knien. Dann stampfte er um sie herum, wedelte mit den Armen, schnellte den Unterkörper vor und zurück, zog die Schultern hoch, wagte einen verwegenen Dreher, griff nach Lydas Händen und zog sie an sich, stieß sie von sich weg, hielt sie fest, damit sie nicht hinfiel, und wieselte mit Gummibeinen vor ihr auf und nieder.
Sie lachte hell und warf den Kopf zurück, drehte sich vor ihm und zuckte im wilden Rhythmus an seinem ausgestreckten Arm. »Das geht ja wunderbar!« rief sie außer Atem. »Bravo!«
»Wenn Sie das Tanzen nennen …« Marcel tapste hin und her wie ein Boxer beim Schattenboxen. »Wer das erfunden hat, war unter Garantie ein Nichttänzer, der auch mal aufs Parkett wollte.«
Mit einem Ruck zog er Lyda an sich, umarmte sie, was gar nicht zu einem Boogie gehörte, und blieb mitten auf der Tanzfläche zwischen den zuckenden Leibern stehen. Ihr Gesicht, etwas verschwitzt und gerötet, war ganz dicht vor ihm. Die Lippen waren geöffnet und glänzten bläßlich. Ihre großen, schwarzen Augen, eigentlich das Schönste an ihr, starrten ihn mit einem Ausdruck kindlicher Erwartung und fraulicher Bereitschaft an.
Er wußte nicht, warum, er wollte es gar nicht – aber er küßte sie. Er küßte sie, als seien sie allein, und er hörte in diesem Augenblick weder die Musik noch den Lärm der tanzenden Menschen, weder den keuchenden Atem um sich herum, noch sah er das Aufzucken der Blitzlichter. Am Rande der Tanzfläche lauerten die Fotografen – und wenn das kein Motiv war! Der Welt bester Rennfahrer, Jérome Marcel, und das reichste Mädchen, Lyda Penopoulos. Küssen sich auf dem Parkett, vor allen Augen! Das bringt ein gutes Honorar! Und der alte Stavros wird wieder einmal toben!
Pierre Lafond hob sein Glas und prostete unbeachtet in die Menge. Salut, Jérome! Es hat gezündet! Genieße den Augenblick; eine Zukunft gibt es da nicht. Eher sprengt Stavros Penopoulos seine ganze Flotte in die Luft, als daß er seine Tochter einem Rennfahrer gibt. Sie ist erst zwanzig, Jérome. Amüsiere dich, alter Knabe, aber gerate bloß nicht in die Schußlinie des Familienclans! Wenn morgen die Fotos in allen Zeitungen erscheinen, klingelt es im Hirn des alten Stavros sowieso Alarm.
Marcel ließ Lyda los und schob sie wieder von sich weg. Wieder begann er mit den Schultern zu zucken, und weil's so schön gewesen war, spielte die Kapelle gleich einen Boogie hinterher.
»Verzeihung«, sagte er. »Aber ich konnte einfach nicht anders …«
Sie blieb steif, wie festgewurzelt stehen. Ihre großen Augen verfolgten seinen vor ihr hin und her pendelnden Körper.
»Wieso konnten Sie nicht anders?«
»Ihr Mund … Ihre Augen … so nah … Ich mußte Sie einfach küssen! Sie dürfen mir als Gegenleistung auch eine runterhauen! Ich halte still.«
»Warum sollte ich Sie ohrfeigen?«
»Um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Wir haben Aufsehen erregt!«
»Das ist mir gleichgültig. Ich errege immer Aufsehen. Die Welt platzt vor Neugier. Ich komme mir manchmal vor wie eine ständig wechselnde Reklame für das sogenannte Jet-set-Leben.«
»Sind Sie das nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schaute etwas hilflos um sich. »Wollen Sie weitertanzen?«
»Sie?«
»Nein.«
Er stellte seine dummen Zuckungen ein und faßte ihre schlaff herunterhängende Hand.
»Dann gehen wir!« Er drängte sich mit ihr durch die Tanzenden und sah Lafond, wie er von der Bar winkte, sie sollten zu ihm herüberkommen. Marcel schüttelte den Kopf und lächelte in drei Kameras, die sich sofort auf ihn richteten. Die
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