Die Erbin
mehr zurecht in diesem nie gekannten Zustand.
»Ich habe mich nie danach gedrängt, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Sie verkörpern für mich eine andere Welt, in die ich nicht hineinpasse. Als dann heute abend Pierre Lafond mich zu Ihnen hinschob und mit seinem dusseligen Boule-Spiel anfing, nur um Sie zur Aufmerksamkeit zu animieren, hätte ich ihm in die Kniekehlen treten können. Ich wette, die Sache mit dem Boule-Spiel war von hinten bis vorn gelogen. Aber so macht er das immer. Er kann lügen, daß die Mauern einstürzen, und verzieht keine Miene dabei.«
»Sie lügen nie?«
»Selten. Nur im Notfall.«
»Wie jetzt?«
»Lyda, warum so mißtrauisch?«
»Weil ich eine Penopoulos bin. Ach, Jérome, manchmal, nein, oft wünsche ich mir, nur eine einfache Mademoiselle Henriette zu sein. Oder das junge Mädchen aus der Provence, das einen Fischreiher liebt, weil er fliegen kann über Berge und Meer. – Aber Sie wollten von sich erzählen.«
»Eigentlich von Ihnen, Lyda. Nach wenigen Sätzen zerrten Sie mich auf die Tanzfläche und versuchten, mir einen Slowfox beizubringen, was kläglich mißlang. Ich bin, obwohl ich singe und Gitarre spiele, der unmusikalischste Mensch, den ich kenne. Das klingt absurd, ist aber so. Wenn ich was singe, dann nur nach dem Gehör. Auf der Gitarre klimpere ich, weil ich herausgefunden habe, daß Gesang selbst mit der schrecklichsten Begleitung immer noch besser klingt als ohne. Sehen Sie – und lachen Sie jetzt nicht –, das ist meine Tragik: Ich möchte so gern gut singen können, ich möchte so gern ein Instrument spielen, ich möchte so gern mit der Musik Freundschaft schließen – aber irgend etwas in meinem Ohr oder in meinem Gehirn, Abteilung Töne, will nicht. Dafür reagiert dieses Hirn sofort, wenn der Motor ein falsches Geräusch von sich gibt oder irgend etwas sonst am Wagen nicht in Ordnung ist. Dann habe ich plötzlich das absolute Gehör.« Er lächelte und sah Lyda aus seinen tiefblauen Augen strahlend an. »Aber als wir tanzten, Mademoiselle, und ich mir alle Mühe gab, daß Sie nicht in die Nähe meiner Füße kamen, fühlte ich mich plötzlich wohl. Darf ich sagen: sauwohl?! Ich wünschte mir, es möge eine lange Nacht werden.«
»Das ist sie nun«, sagte sie leise. »Was machen wir mit der Nacht?«
»Wünschen Sie sich etwas! Sie haben gesagt, es gäbe für Sie keine Wünsche mehr. Nun haben Sie einen Wunsch frei.«
»Und kaum geäußert, wird er erfüllt?«
»Oder nicht! Ich kann auch nein sagen!«
»Ich möchte einmal bei einem Rennen in Ihrer Box stehen.«
»Nein.«
»Ich möchte einmal in Ihrem Rennwagen fahren.«
»Absolutes Nein!«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Ja.«
»Danke.«
Sie beugte sich über ihn, legte beide Hände um seinen Kopf und küßte ihn auf den Mund. Es war ein scheuer, flüchtiger Kuß, kein leidenschaftliches Aufeinanderpressen der Lippen, und trotzdem durchflutete beide in diesem Augenblick ein Strom von Seligkeit.
Ein Blitz durchbrach die Stille. Marcel fuhr empor und stürzte nach vorn. Zu spät. Der Fotograf, der ihnen lautlos gefolgt war, hetzte durch den Felsenweg davon.
»Stehenbleiben!« schrie Marcel. »So ein Saukerl! Bleiben Sie stehen, dann geschieht Ihnen nichts. Aber wenn ich Sie einhole, dann gnade Ihnen Gott!«
Er setzte hinter dem Flüchtenden her, aber der Vorsprung war selbst für einen durchtrainierten Mann wie Marcel zu groß. Ein paarmal stolperte er über große Steine, was ihn wertvolle Sekunden kostete, und als er die befestigte Straße erreichte, sah er gerade noch, wie ein kleiner Wagen, ein Citroën 2 CV, nach halsbrecherischem Start davonhoppelte. Er merkte sich die Autonummer, aber was nutzte das? Ein Wagen aus Nizza.
Langsam kam er zu Lyda zurück und hob bedauernd beide Arme. Sie saß noch immer auf dem Stein und hatte die Hände im Schoß gefaltet.
»Entwischt! Die Suppe wird gekocht; wir müssen sie auslöffeln. Wenn das morgen in der Zeitung steht, dieses Bild – das wird ein Geschnatter geben! Um nichts!«
Sie stand auf und ging an ihm vorbei. »Sie sagen es!« Ihre Stimme klang spröde. »Um nichts …«
»Bis jetzt.« Er lief ihr nach, riß sie an den Schultern herum und zog sie an sich. Sie wehrte sich, drückte ihre Fäuste gegen seine Brust, wollte ihn von sich stoßen.
»Jetzt werden Sie doch noch verrückt!« rief sie. Ihr Atem keuchte. »Sie enttäuschen mich. Sie sind genau wie die anderen! Lassen Sie mich los!«
»Lyda …« Marcel ließ sie frei. »Bitte! Gehen
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