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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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auf.
    »Sie können sofort hinaus, wir haben nur noch ein paar Minuten. Bitte beantworten Sie meine Frage.«
    »Lassen Sie mich aufs Klo gehen.«
    »In zwei Minuten.«
    »Ich will jetzt.«
    »Nein.«
    Ich lächle ihn und dieses Mal auch die Dolmetscherin an und lasse seelenruhig einen feinen Strahl Urin an meinen Beinen entlang und über meine Schuhe auf den pflegeleichten Bodenbelag rinnen. Das Rinnsal hinterlässt ein feines Glänzen an meiner Wade und an meinem Fußrücken und verdunkelt die Riemchen, die sich über diesen spannen.
    Es fühlt sich leicht an und sauber, als hätte ich in einem Wald einen tiefen Atemzug voller Pflanzengerüche genommen und wieder ausgeatmet. Ich rühre mich nicht und lasse ihn nicht aus den Augen. Er erwidert meinen Blick ohne jeden Ausdruck im Gesicht. Wenn er jetzt die Lider senkt, hat er verloren und ich gehe.
    Um meinen rechten Stöckelschuh bildet sich eine kleine Pfütze. Ich fahre durch meine Haare, meine Finger bleiben am Hinterkopf in den Strähnen hängen.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

18
    Das Spital liegt mitten in Wien, hat man mir gesagt, aber ich habe es noch nie von draußen gesehen. Der Innenhof ist von hohen Mauern umgeben, begrünt, er wirkt wie der eines Landhauses. Man hört nicht viel vom Autoverkehr. Eigentlich nichts. Das Spital schirmt die Patienten ab, vom Trubel, vom Alltag, von allem, was sie gewohnt waren. Es legt eine wattige Schicht Ruhe um mich, erstickt mich in Beschäftigungslosigkeit und Zeitleere. Niemand wartet draußen auf mich, und ich muss nichts tun, um genug zu essen zu haben. Es ist immer warm hier, immer eine Spur zu warm.
    In der Eingangshalle hängt ein schlichtes, riesiges Kreuz aus Holz, mit feinen Goldlinien in der Mitte der Verstrebungen, sonst würde mich nichts an einen katholischen Verein erinnern. Ich war einmal schon fast unten, im mintgrün gehaltenen Foyer, in dem ein halbrunder Marmortisch den Portier in eine besonders wichtige Erscheinung verwandelt. Eine Art Petrus, der über Eintritt und Weiterverteilung im Paradies verfügen kann, der einem den Zutritt verwehrt oder die Flucht. Sternförmig führen die Gänge von der Halle in Ambulanzen, Sekretariat und Kaffeehaus, in der Mitte plätschert beruhigend ein Springbrunnen, aus dem man regelmäßig die Besucherkinder jagen muss. Ich war schon fast dort, beim Portier, beim Brunnen, fast. Ich ging die Treppe hinunter, sah schon von weitem die große Drehtür aus Glas, sah Schemen draußen, die an ihr vorbeigingen, vornübergebeugt, eilig, grau in grau der Boden, die Wände, der Regen, und schreckte zurück, als hätte ich das Tor zur Hölle wiedergefunden. Meine Beine gaben leicht nach, und ich stieg mit diesen nachgebenden, wattigen Beinen ganz langsam die Stiege wieder hinauf, Stufe um Stufe, und hielt mich dabei sehr fest am Plastikgriff, der die Treppe säumt. Zog mich an ihm hoch, in Richtung der Krankenzimmer, in Richtung der kleinen dunklen Gänge mit den Bullaugen und den Linoleumböden, die mich an meine und Nastjas Absteige erinnerten, nur sauberer.
    Das Haus ist schlicht, unästhetisch modern, manche Räume wirken wie ein Großraumbüro mit Glaswänden, die die Sekretärinnen in kleine unsichtbare Käfige sperren wie die rot ausgeleuchteten Nischen in Amsterdam. In der Cafeteria im ersten Stock treffen sich Patienten mit Angehörigen, flirten Pfleger mit Kellnerinnen und Kellner mit Krankenschwestern, Ärzte habe ich hier unten noch nie gesehen, als ob auch hier eine gläserne Wand eingezogen worden wäre, die alle Hierarchien deutlich und dezent festsetzt. Ich spüre Hierarchien zehn Meter gegen den Wind, zu viele kennengelernt, die bei mir eine kurze Auszeit suchten, manche auch, indem sie mich zu treten versuchten, um die vielen Tritte abzufärben, die sie erhalten hatten, solche hatten bei mir meist wenig zu lachen. Ich dulde keine Grenzen, ich dulde keine Regeln, ich dulde nichts, das nicht ich mir auferlegt habe, und ich bin gut damit durchgekommen. Bis jetzt.
    Manchmal setzte ich mich, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, ins Café, saß dort stundenlang vor einem Glas Wasser. Sah nicht nach links und nicht nach rechts. Hörte nur den Redenden zu, alle leise, aber so viele gleichzeitig, dass die Gesprächsbächlein zu einer Flutwelle gerieten, zu einem Wortmeer, das behäbig rauschte, und mit jeder Welle, die sich an meinen Ohren brach, wurden Einzelheiten offenbart, von denen ich nichts erfahren

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