Die Erfinder des guten Geschmacks
Analogkäse in der Zwei-Euro-Pizza aufregen konnten, wanden der Transglutaminase, den Hydrokolloiden und dem Maltodextrin verbale Lobeskränze. Gehandelt wurde die Avantgardeküche als »neue« Nouvelle Cuisine. Das große Vorbild war allerdings noch von Köchen ersonnen worden und kam ohne Zuwendungen der Chemieindustrie aus.
Von den Medien ermuntert, stieg die zusatzstoffreiche Molekular- oder Avantgardeküche in raketengleicher Geschwindigkeit auf. Große Köche redeten nur noch über Konsistenz statt über Geschmack. In jedem Land der westlichen Welt wurde ein emblematischer Molekularkoch in den Olymp erhoben. Heston Blumenthal in Großbritannien, Amador in Deutschland, Wylie Dufresne in New York, Grant Achatz in Chicago, USA,Massimo Bottura in Italien, Anatoly Komm in Moskau … Und weil Köche dank permanenter Fernsehpräsenz die neuen Helden unserer Zeit sind, drängten Molekular- und Avantgardeküchensets bald auch auf den Markt für Privatleute.
Während die Lebensmittelindustrie für die Verwendung von Emulgatoren, Farbstoffen und Geschmacksverstärkern meist Kritik einstecken muss, werden Köche für ihre Verwendung in Magazinen und TV-Dokumentationen ausdrücklich gelobt. Nicht alle Berufskollegen waren jedoch von der Welle der Lebensmittelzusatzstoffe begeistert. Aufkommende Diskussionen blieben allerdings meist auf Frankreich beschränkt, was den Franzosen als Neid und Missgunst gegenüber den erfolgreichen Spaniern ausgelegt wurde. Top-Koch Olivier Roellinger aus dem bretonischen Cancale, im Erstberuf Chemiker, ist der Meinung: »Wenn Köche ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, das Beste der Natur auf den Teller zu bringen, sondern stattdessen die Errungenschaften der letzten 40 Jahre Chemieindustrie auftischen, wird eine rote Linie überschritten.« Und: »Fortschritt ist das nicht. Einfachstes Beispiel ist der flüssige Stickstoff, der sonst in der Dermatologie zum Entfernen von Warzen genutzt wird: Er raucht zwar schön, verbrennt aber mit seiner Tiefsttemperatur die Zutaten.«
Der Spitzenkoch Joël Robuchon, Berater des Fertigkost-Herstellers Fleury Michon, äußerte gegenüber dem Online-Frauenmagazin auFeminin.com (jetzt gofeminin.com) : »Ich bin zu 200 Prozent gegen die Molekularküche. Weil ich eng mit den Aufsichtsbehörden und der Industrie zusammenarbeite. Die ermutigt man nämlich, auf Zusatzstoffe zu verzichten. All das ist intellektuelle Masturbation. Es ist schwieriger, einfach zu kochen und dennoch Aufmerksamkeit zu generieren. Einfach kochen, das ist kompliziert.«
Emmanuel Renaut aus Megève erklärte im Juni 2011 in einem Interview zu seinem Gastspiel im österreichischen Hangar 7:
»Die Molekularküche verwendet viele fragwürdige Bestandteile. Ich halte Abstand davon, diese Pulver und Mischungen zu verwenden. Auch wenn sie mitunter gut schmecken; oft verspeist, sind sie nicht gut für die Gesundheit.«
Sein Lehrmeister, der Franzose Marc Veyrat, ist ebenfalls skeptisch: »In der Küche von morgen sollten einige dieser Geliermittel ebenso wie genmodifizierte Produkte verboten werden«, sagte er dem Fachmagazin CHR . Auch Veyrat weiß, wovon er spricht: Er war selbst lange Jahre Avantgardekoch, bevor er sein reputiertes Restaurant in Annecy aus gesundheitlichen Gründen schloss.
Denn auch ohne Zusatzstoffe lässt sich avantgardistisch und »wissenschaftlich« kochen. Bewiesen hat dies Miguel Sanchez Romera. Der einstige Chefarzt der neurologischen Abteilung im Krankenhaus von Granollers bei Barcelona fand erst mit 43 Jahren den Weg an den eigenen Herd. Seinen Doktortitel hatte er altmodisch an einer Universität erworben, seine Erfindung war tatsächlich eine und wurde dementsprechend vom spanischen Patentamt auf seinen Namen eingetragen. »Micri« heißt sie; eine Abkürzung für Miguel + Cristina, seine Frau. Die Maniok-Wasser-Mischung fungiert als vegetarischer Saucenfond oder verhilft Nahrungsmitteln inklusive Saucen zu einer beliebigen Konsistenz, und zwar ganz ohne Beigaben aus der Chemiefabrik. Micri war das »Bindeglied« der Aromenkomponenten in der Küche seines Restaurants L’Esguard. Beim Hirschfilet wurde es zu bunten Gewürzperlen, beim Entrecóte von der Ente zu winzigen, flockigen Kristallen, beim Lachs mit Safran, Orange und Ingwer wirkte es wie eine durchsichtige Verpackung. »Nahrung ist ein Stimulusdes Hirns«, so Sanchez Romera. »Als Neurologe weiß ich, wie man Stimuli schafft.«
Als Mediziner lehnte er den Griff in den Chemiekasten, zu den
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