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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Zipprick
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wegweisenden Rezepts vorgestellt. Die eigene, gleichermaßen wissenschaftliche und künstlerische Arbeit wird gepriesen, Kollegen, Lehrmeister und Kritiker als Ewiggestrige gebrandmarkt.
    Mit der Nouvelle Cuisine kamen auch die Kritiker. Viele Gourmets begeistern sich leicht für Neues, hängen jedoch auch an alten Favoriten: »Mein Magen gewöhnt sich nicht an die Nouvelle Cuisine. Ich kann kein Kalbsbries, das in salziger Sauce schwimmt, erleiden und kein Gehacktes aus Puter, Kaninchen und Hase, das man mir als ein einziges Fleisch ausgibt, essen. Ich mag weder Taube à la crapaudine (ohne Knochen gebraten) noch Brot ohne Krume. Was die Küchenchefs betrifft, kann ich keine Schinkenessenz vertragen noch den Exzess an Morcheln, Pilzen, Pfeffer und Muskat, mit dem sie eigentlich gesunde Gerichte verkleiden.«
    Voltaire sandte diese Zeilen 1765 an den Comte d’Artois. Für viele heutige Restaurantkritiker wäre der Literat und Philosoph damit automatisch ein Reaktionär. Außerdem war er ja schon 71 Jahre alt, als er die Schinkenessenz schlürfen musste. Andererseits war der geplagte Esser noch höchst aktiv: Voltaire schrieb über Philosophie und das Russland Peters des Großen, formulierte Religionskritik, versuchte sich mit Erfolg am damals neuen Genre des »bürgerlichen Trauerspiels«. Kann man dem Vordenker der Aufklärung, dem Kritiker des Absolutismus, der Feudalherrschaft, der Leibeigenschaft und des Deutungsmonopols der Kirche – also so ziemlich allen »Stützpfeilern« der Gesellschaft seiner Zeit – wirklich unterstellen, Neuerungen aus Prinzip abzulehnen?
    Für Voltaire war die neue Küche eben nicht leichter und wissenschaftlicher, sondern im Gegenteil unnötig kompliziert mit einer Tendenz zum Nepp, etwa durch »Gehacktes aus Puter, Kaninchen und Hase, das man als ein einziges Fleisch ausgibt«(zitiert nach: Alain Drouard: Histoire des innovations alimentaires ).
    Der französische Autor Bénédict Beaugé sieht in seinem Buch Plats du jour: Sur l’idée de la nouveauté en cuisine (2013) die »neue Küche des 18. Jahrhunderts, genau wie die anderen neuen Küchen, von denen man zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte spricht, nicht als sehr revolutionär […] Neue Küchen wachsen nicht aus dem Oberschenkel eines besonders brillanten oder wagemutigen Kochs […] das Erscheinen einer neuen Küche entspricht eher der Bewusstseinsbildung bezüglich eines diffusen Phänomens, das bereits seit einiger Zeit existiert, als einer präzisen, zeitlich begrenzten, technischen Revolution: Die Küche wird in dem Moment ›neu‹, in dem sie als ›neu‹ bezeichnet wird, was die Wichtigkeit des geschriebenen Worts unterstreicht.«
    Kurz und knapp: Es gab (und gibt) eben keine neue Küche, sondern eine Verfeinerung und Veränderung bestehender Techniken, die nicht einer einzigen Person zuzurechnen sind.
Regionales ist begehrt
    Neben der »neuen Küche« an und für sich zeigte sich bei Marin und Menon eine klare Tendenz zu regionalen Spezialitäten, die über ein bloßes Modephänomen hinausging. Sie favorisierten Gerichte auf Provenzalische, Lyoner und Burgunder Art, nach Art der Gascogne oder des Périgord.
    Marin sprach in Les Dons de Comus klare Empfehlungen aus, welches Lebensmittel aus welcher Region zu welcher Jahreszeit am besten zu verzehren sei. Im Herbst waren das zum Beispiel Rindfleisch, »exzellent in Paris, wie zu jeder Jahreszeit«, Hammel aus Reims, Pré-Salé-Lamm aus Cabourg und Dieppe in der Normandie, aus Avranches, Beauvais und den Ardennen, Kalb aus Rouen, Pontoise, Montargis und Caen sowie Milchkalb aus der Umgebung von Paris. Das Schwein hingegen sei gut im ganzen Land: »Alter und Ernährung entscheiden über Qualität und Geschmack.«
    Eine Erkenntnis, die bei vielen heutigen Züchtern in Vergessenheit geraten ist.
    Beim Geflügel empfahl Marin Poularden aus der Normandie und Le Mans sowie die noch besseren aus Mezerai im Anjou, dazu den Kapaun von Le Mans, Blanzac, der Bresse und Brügge, fettes Huhn aus der Normandie, ausgewählte Tauben aus der Picardie, fette Zuchttauben aus Reims »ebenso gut wie die aus Rom oder Venedig«. Für Federwild gab es ebenfalls Herkunftsempfehlungen. Natürlich wusste Marin auch, dass Fisch der Saison unterliegt: Bei ihm gab es den Stör, »königlicher Fisch, der sich manchmal in Seine und Loire findet«, aber noch öfter in Flandern auftaucht, Lachs und Alse, Steinbutt, Barbe, dicke Schollen, Seezungen, frischen Hering im November, Merlan,

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