Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
einen! Schuldigung, Tamara. Was machen Sie da?« Er meinte Braga, der jetzt neben ihn trat.
    »Sie kommen jetzt mit uns, Herr Vogel, ist das klar?«
    »Leck mich!«
    Er glitt vom Stuhl, wankte, nahm seine Jacke, warf sie sich über die Schulter und schoss, wie von einem unsichtbaren Seil ruckartig gezogen, zur Tür hinaus auf die Straße.
    Braga eilte ihm hinterher.
    »Jetzt hat er drei Monate keinen Tropfen getrunken«, sagte Tamara, »und heut hat er wieder angefangen. Sind Sie da dran schuld?«
    »Ich nicht«, sagte Gerke und verließ ebenfalls die Bar. Tamara wusste, dass sie die drei Wodkatonics in den Wind schreiben konnte, und schenkte sich erst einmal selber einen ein.
    Draußen hatte Braga Vogel in den Schwitzkasten genommen und bugsierte ihn zum Auto. Dann fuhren sie um den Bahnhof herum, bogen vor dem Südeingang links ab und parkten im Hinterhof des Dezernats.
    Zu zweit fassten sie Vogel unter den Achseln, schoben ihn in den Aufzug und im dritten Stock über den Flur bis in das Zimmer, in dem die Vernehmung stattfinden sollte. Sie stellten eine dampfende Tasse Kaffee vor ihn hin und setzten sich an den Tisch: Braga, Gerke, Stern, Nadine Bach und Karl Funkel, der kurz zuvor die Sonderkommission Raphael neu koordiniert hatte und den Eindruck vermittelte, zum ersten Mal in seiner Laufbahn die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht zu haben. So grau im Gesicht, so unruhig und seiner Nervosität hilflos ausgeliefert, hatte ihn Nadine Bach noch nie erlebt.
    »Alles klar so weit?«, flüsterte sie ihm zu.
    Er nickte und drehte den Bleistift so heftig zwischen den Fingern, dass der Stift ihm entglitt und zu Boden fiel; er bückte sich und schlug sich den Kopf an der Tischkante an. Er lächelte gequält, und Nadine hätte ihm gern etwas Aufmunterndes gesagt, aber dafür war keine Zeit.
    »Ich möchte Sie darauf hinweisen«, sagte Rolf Stern und sah Thomas Vogel in die rot unterlaufenen Augen, »dass Sie hier als Zeuge in einem Verbrechensfall sitzen, nicht als Verdächtiger. Ist Ihnen der Unterschied bewusst?«
    Vogel stieß einen Seufzer aus, und seine Fahne wehte unüberriechbar über den Tisch.
    »Dennoch haben Sie die Pflicht zu einer wahrheitsgemäßen Aussage. Verstanden, Herr Vogel?«
    »Ich weiß nichts, ist das klar? Die zwei da haben mich gegen meinen Willen hierher geschleift, das wird ein Nachspiel haben, das garantier ich Ihnen! Ich wend mich an die Zeitung, und dann passen S’ mal auf, was passiert, ha!«
    »Herr Vogel, kennen Sie einen Mann namens Frank Oberfellner?«
    Er senkte den Kopf, stöhnte, und sein Kopf schnellte empor. Sein gläserner Blick machte die Runde, dann nickte er. »Das ist das Schwein, das meinen Sohn entführt hat! Den kenn ich, das ist das Schwein. Er hat meinen Jungen entführt, er ist selber schuld …«
    »Wie meinen Sie das, er ist selber schuld?«, fragte Stern. Ausnahmsweise hatten sie diesmal zwei Mikrofone aufgestellt, eins nah vor dem betrunkenen Thomas Vogel, das andere näher bei Stern und Funkel, damit Fragen und Antworten später deutlich voneinander zu unterscheiden waren.
    »Selber-Schuld-is-selber-Schuld«, sagte Vogel und steckte die Hände in die Taschen seiner Wildlederjacke.
    »Kennen Sie Herrn Oberfellner persönlich?«
    »Ich will sofort was zum Trinken, verdammt! Außerdem will ich meinen Anwalt anrufen, das ist ja ungesetzlich, was Sie hier machen, das ist illegal!« Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, fuchtelte er mit den Armen und drehte den Oberkörper ruckartig hin und her.
    »Trinken Sie einen Schluck Kaffee«, sagte Funkel. Die Vorstellung, dieser Mann sei zu betrunken, um eine brauchbare Aussage zu machen, trieb ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn. Seit zweieinhalb Stunden lag ihm Hugo Baum, der Pressesprecher, damit in den Ohren, dass die Journalisten endlich definitiv wissen wollten, ob es stimmte, dass Raphael Vogel schon wieder ausgebüchst war, und wenn ja, wie das möglich gewesen sei. Gute Frage: Wie war das möglich? Und was sollte er tun? Nach Kindern, die von zu Hause wegliefen und suizidgefährdet waren, wurde zunächst nicht öffentlich gefahndet, in solchen Fällen kam es darauf an, das Kind nicht in die Enge zu treiben und durch öffentliche Aufrufe zu verunsichern, was womöglich Kurzschlussreaktionen provoziert hätte. Und die Methode war erfolgreich, neunzig Prozent dieser Kinder tauchten von selber wieder auf oder wurden von der Polizei gefunden, verängstigt, einsam, aber lebend.
    Aber wie sollte er im Fall des kleinen

Weitere Kostenlose Bücher