Die Erfindung des Abschieds /
Raphael Vogel verfahren? Die Journalisten um Stillschweigen bitten? Er glaubte nicht, dass sie sich daran halten würden – obwohl sie in anderen Fällen durchaus dazu bereit gewesen waren und die Absprachen befolgt hatten. Im Fall Raphael jedoch, der schon einmal weggelaufen war und ohne die Hilfe des
Sehers
möglicherweise nicht gefunden worden wäre, wie bestimmte Zeitungen geschrieben hatten, würden sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht daran halten. Schon deshalb, weil sie den Fähigkeiten der Polizei massiv misstrauten und die Story viel zu spektakulär war, um sie zu verschenken.
Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich jetzt auch noch herausstellte, dass Raphaels Vater einen Mann erstochen hatte, den Mann, bei dem Raphael Unterschlupf gefunden und der den Jungen angeblich entführt hatte; es gab immer noch eine Menge Reporter, Psychologen und Mitglieder des Kinderschutzbundes, die die Aussagen des Jungen bezweifelten und behaupteten, die Polizei habe den Fall voreilig zu den Akten gelegt.
O Gott, dachte Funkel und bemerkte, dass er die ganze Zeit steile Wellen auf das Blatt gekritzelt hatte, unregelmäßige Linien wie auf dem Monitor eines Kardiographen.
»Haben Sie meine Frage nicht verstanden?«, sagte Stern.
»Was ist?«, sagte Vogel.
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie Frank Oberfellner persönlich kennen.«
»Kenn ich nicht, das Schwein.«
»Es gibt eine Zeugin, die Sie heute Morgen vor der Wohnung von Frank Oberfellner gesehen hat, Sie, Herr Vogel!« Es war nicht gerade die Krönung der Vernehmungskunst, dass Stern bereits zu diesem frühen Zeitpunkt eine so entscheidende Bemerkung machte, aber er hatte keine Lust, sich das Gelalle eines Besoffenen länger als nötig anzuhören, er wollte vorwärts kommen, und er konnte förmlich den Druck spüren, unter dem sein Kollege und Freund Funkel litt.
»Scheiß drauf!«, sagte Vogel.
»Da scheißen wir überhaupt nicht drauf«, sagte Stern. »Sie waren heute früh bei Frank Oberfellner, Sie haben ihn besucht, und wir möchten jetzt wissen, was Sie von ihm wollten.«
»Ich sag’s nochmal zum Mitschreiben: Ich kenn den Arsch nicht! Ich kenn ihn aus der Zeitung. Und jetzt will ich meinen Anwalt anrufen!«
»Sie brauchen keinen Anwalt«, sagte Stern, »Sie sind als Zeuge hier.«
»Als Zeuge für was denn?«, stieß Vogel hervor und ließ sich gegen die Stuhllehne fallen.
»Bitte trinken Sie einen Schluck Kaffee, Herr Vogel!«, sagte Funkel noch einmal.
»Ich trink keinen Kaffee, schon gar keinen von euch Bullen. Ich geh jetzt.« Damit stand er auf, trat mit der Ferse gegen den Stuhl und wandte sich zur Tür. Josef Braga packte ihn an der Jacke und pflanzte ihn wieder hin. Vogel sackte auf den Stuhl und stierte ausdruckslos den Polizisten an, der ihm ins Gesicht sah.
»Nicht wegfliegen, Vogel!«, sagte Braga, und sein Kollege Gerke konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich verbring doch meinen Sonntagvormittag wegen dir nicht in lauter trostlosen Kaschemmen und lass dich dann einfach wieder wegfliegen, wenn ich dich endlich erwischt hab. Hast mich?«
Dass Braga ihn duzte, würde bei der Abschrift des Tonbands in ein Sie umgewandelt werden, das machte sich besser, Funkel bestand darauf.
»Loslassen!«, sagte Vogel und versuchte, sich aus Bragas Griff zu befreien. Wütend zappelte er herum, bis Braga losließ und er um ein Haar mitsamt dem Stuhl umgekippt wäre. »Arschloch!«
»Sie waren also heute Morgen nicht bei Frank Oberfellner«, sagte Stern.
Vogel reagierte nicht. Wippte mit dem linken Bein und starrte zu Boden.
Stern stand auf und öffnete die Tür. »Kommen Sie bitte!«, sagte er auf den Flur hinaus. Er blieb stehen, und eine groß gewachsene Frau kam herein, bekleidet mit einem schwarzen weiten Umhang; auf dem Kopf thronte ein schwarzer Hut mit einer breiten Krempe, sie hatte schwarze Wimperntusche und schwarzen Lidschatten aufgelegt.
»Das ist Frau Oda Hottrop, die Nachbarin von Herrn Oberfellner«, sagte Stern, und Oda verneigte sich. Vogel sah sie mit offenem Mund an.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Stern.
»Überhaupt nicht«, sagte Vogel.
»Und Sie, Frau Hottrop, haben Sie diesen Mann schon mal gesehen?«
»Hab ich, heute früh, er war bei uns im Haus, ich hab ihn weglaufen sehen …«
»So ein Schwachsinn!«, brummte Vogel.
»Sie haben kein Recht, so mit mir zu reden, Sie … Sie Mörder! Sie haben den Herrn Oberfellner umgebracht, Sie …«
»Frau Hottrop«, sagte Stern und kam sich irgendwie
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