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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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und wann.«
    Sunny drehte sich um und stemmte die Fäuste in die Hüften, und der Haarpinsel auf ihrem Kopf wackelte. »Gestern natürlich. Im Deutschen Museum, da geh’n wir immer hin, wenn’s regnet, da ist doch die große Eisenbahn, das weiß doch jeder.«
    Sie zog die Tür auf und stürmte hinaus – direkt gegen Florians Beine. Sie wollte weiterrennen, als Freya hinter ihr auftauchte und sie festhielt.
    »Hast du Raphael heut gesehen, Sunny? Ja oder nein?«
    »Nein! Mama!« Sie rannte ins Wohnzimmer und baute sich vor ihrer Mutter auf. »Die Frau soll jetzt gehen, Mama!«
    Freyas Handy klingelte. »Epp. Ja. Wir sind in Haidhausen, Nähe Ostbahnhof, ja, Bordeauxplatz, was? Gibt’s ja nicht! Pass auf, ich hab auch eine Neuigkeit, erzähl ich dir vom Auto aus.« Sie steckte das Gerät ein.
    »Was ist?«, fragte Florian.
    »Der Junge ist gesehen worden, am Ostfriedhof.«
    »Ist ja sehr gut.«
    »Er ist zu einem unbekannten Mann in ein unbekanntes Auto gestiegen.«
    »Scheiße.«
    Sie ging ins Wohnzimmer, um sich zu verabschieden. Sunny umklammerte die Beine ihrer Mutter und kehrte Freya den Rücken zu. »Ich muss dich nochmal fragen, Sunny, das letzte Mal, versprochen: Hat dir der Raphael gesagt, wo er vielleicht hingehen will? Hat er ein Versteck, wo er manchmal ist oder wo ihr beide euch getroffen habt.«
    Jasmin Heus streichelte die Haare ihrer Tochter. Sonst passierte nichts. Sebastian Heus saß am Tisch, rauchte ein Zigarillo und rieb sich die Augen.
    »Im Keller bei seinem Opa«, murmelte Sunny in die Jeans ihrer Mutter.
    »Da sind wir schon gewesen, da ist er nicht.«
    »Dann ist er weg«, sagte Sunny.
    Zwei Minuten später fuhren sie mit quietschenden Reifen um den Bordeauxplatz, über eine rote Ampel beim Ostbahnhof und jagten die Welfenstraße hinunter.
    »Mist!«, sagte Freya, als sie vor einem Buchladen in der Tegernseer Landstraße aus dem Wagen sprangen. »Jetzt hab ich vergessen, mir ein Autogramm geben zu lassen.«

5
    Später, wann ist das?
    J edes Mal, wenn Sonja Feyerabend zu den beiden Hünen hinübersah, musste sie ein Grinsen unterdrücken. Sie standen hinten an der Wand, weil keine Stühle mehr frei waren, in keinem Büro im zweiten Stock, wo Kriminaloberrat Funkel vor einer halben Stunde eine Konferenz einberufen hatte, an der sämtliche Mitglieder der Sonderkommission Raphael teilnahmen, vierzig Fahnder sowie einige zusätzliche Beamte aus der Mordkommission und dem Kommissariat 113, »Brandfahndung und Umweltdelikte«. Josef Braga und Sven Gerke, die beiden Riesen, arbeiteten normalerweise in der Mordkommission und galten als eines der effektivsten Zweierteams im Dezernat. Bei einer Größe von ein Meter achtundneunzig überragte Gerke seinen Kollegen Braga um zwei Zentimeter und hatte ihm zudem einen Schnurrbart voraus, und zwar einen, der an den Enden nach oben gezwirbelt war, ein kleines haariges, exakt geschnittenes und akribisch gepflegtes Kunstwerk, das ihm ebenso viel Bewunderung wie Spott einbrachte. Braga hatte ein ovales, unscheinbares Gesicht, das er gewohnheitsmäßig in die Breite zog, ohne sagen zu können, warum; es sah aus wie ein breites, verkrampftes Grinsen, aber er grinste nicht; vielleicht war es Muskeltraining, niemand wusste das, und er selbst auch nicht. Die beiden Oberkommissare waren ein Kuriosum, nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch deshalb, weil sie außerhalb des Dienstes praktisch nichts miteinander zu tun hatten. Wirkten sie bei der Arbeit wie siamesische Zwillinge, die präzise aufeinander eingestellt waren, so gingen sie sich ansonsten geradezu aus dem Weg; sogar bei der Weihnachtsfeier oder beim alljährlichen Betriebsausflug der Mordkommission beschäftigten sie sich mit allen Kollegen, nur nicht mit ihrem Partner, und sie weigerten sich, zu diesem Thema irgendeinen Kommentar abzugeben.
    Sonja arbeitete gern mit ihnen zusammen, weil sie nie Fragen nach ihrem Privatleben stellten und ihr trotzdem das Gefühl gaben, nicht nur als Kollegin anerkannt zu sein.
    Die beiden Räume, die ineinander übergingen und nur durch eine schmale Tür getrennt waren, so dass sich die meisten Anwesenden nicht sehen konnten, waren voller Rauch. Bataillone von Mineralwasser- und Orangensaftflaschen standen auf den von Papieren und Fotos überquellenden Tischen, auf Aktenschränken und zwischen den Stühlen, die die Polizisten eng zusammengerückt hatten. Ein ausreichend großes Besprechungszimmer für derartige Sitzungen gab es nicht, genauso wenig wie Extraräume

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