Die Erfindung des Abschieds /
ihre Haare hoch gesteckt gehabt, jetzt fielen sie in braunen glänzenden Wellen über ihren Rücken, und Weber bewunderte sie verstohlen. Im selben Moment, als sie die Beine übereinander schlug, tat er dasselbe, und das war ihm peinlich. Der Morgenrock rutschte von ihrem Schenkel, und sie bedeckte ihn sofort wieder; Webers Gesichtsfarbe glich der einer reifen Tomate.
»Wir haben gerade mit Frau Klein gesprochen, der Wirtin …« sagte Sonja, die stehen geblieben war. Sie konnte nicht verhehlen, dass diese Wohnung ein wenig ihrer eigenen glich; sehen sich die Wohnungen allein lebender Frauen alle ähnlich?
»Das ist eine nette Frau«, sagte Evelin.
»Sie hat uns erzählt, Sie hätten Georg Vogel in Ihre Heimat eingeladen, und er habe versprochen, mal mit Ihnen hinzufahren, stimmt das?«
»Ja, aber ich hab nie dran geglaubt. Er ist doch nie verreist. Ich weiß nicht, wie das früher mit seiner Frau war …«
»Genauso«, sagte Weber, obwohl er nichts sagen wollte; es kam einfach so aus seinem Mund.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Evelin und schaute ihn an, und er nickte und fühlte sich verklemmt mit den übereinander geschlagenen Beinen.
»Wo sind Sie denn her, Frau Sorge?«, fragte Sonja. Auf dem Fensterbrett stand eine Palme wie bei ihr in Milbertshofen.
»Aus Soltau, das ist in der Lüneburger Heide. Da bin ich geboren und zur Schule gegangen. Im Sommer sind wir immer nach Helgoland gefahren, weil ich eine schlimme Heuschnupfenallergie hatte, und auf Helgoland gibt’s keine Pollen, das war das reinste Paradies für mich. Ich hätte Georg gerne meine Heimat gezeigt, meine Eltern leben dort, mein Bruder, der ist Schuster, wir hätten Ausflüge machen können, oder nach Bremen fahren oder Hamburg. Das hätt ich gern mit ihm gemacht, und mit seinem Enkel natürlich, von dem hat er immer gesprochen, wenn wir uns getroffen haben, der Raphael, das war sein Prinz.«
»Wann haben Sie Georg Vogel kennen gelernt?«
»Vor ungefähr drei Jahren.«
»Und wo?«
»In der Straßenbahn!« Lächelnd ließ sie sich gegen die Lehne des Sofas fallen, und ein wohliger Wind streifte Paul Weber, der nach wie vor steif dasaß und mühsam seine Blicke im Zaum hielt. »Ich bin beim Schwarzfahren erwischt worden, und ich hab mich mit so einem sturen Kontrolleur rumgestritten, und zwar so laut, dass Georg mitten auf der Strecke anhielt, nach hinten in den Waggon kam und fragte, was los sei. Dann griff er in die Hosentasche, holte einen Fahrschein hervor, entwertete ihn, zeigte ihn dem Kontrolleur und meinte: ›Der gehört jetzt der Frau‹, und dann drückte er ihn mir in die Hand. Die Leute haben vielleicht geglotzt! Bei der nächsten Haltestelle hab ich mich bedankt und wollte ihm das Geld zurückerstatten, aber er nahm es nicht. Wir haben uns dann auf ein Abendessen geeinigt, und ich hab für ihn einen Hasenbraten gemacht, das war eines seiner Lieblingsgerichte. Nach dem Essen hat’s dann nicht lang gedauert, und wir sind im … so kam das eben. Ich war seine Freundin, auch wenn er mehr Zeit in seiner Straßenbahn und mit seiner Modelleisenbahn und mit seinem Enkel verbracht hat, viel mehr Zeit.«
»Haben Sie Raphael mal getroffen?«, fragte Sonja und machte sich Notizen.
»Einmal, aber nur kurz, eher zufällig. Ich hab Georg an einer Haltestelle abgepasst, weil ich irgendwas von ihm wollte, weiß nicht mehr, was, und da war Raphael in der Bahn. Georg hat mich vorgestellt, aber Raphael hat sich nicht für mich interessiert, er hatte nur Augen für seinen Großvater und für die Tram.«
»Und danach sind Sie ihm nie wieder begegnet?«
»Nein. Aber wie gesagt: Georg hat mir ständig von ihm erzählt, welche Noten er in der Schule hat, welche Fortschritte er als Fußballspieler macht, dass er wieder Streit mit seiner Mutter hat, dass sein Vater in Pasing ausgezogen ist, all das …«
»Hat Georg Vogel nie davon gesprochen, dass er mal zusammen mit dem Jungen verreisen will?«, fragte Sonja und wunderte sich über ihren Kollegen, der wie festgenagelt dahockte und den Mund nicht aufbrachte.
»Nein, hat er nicht, nie. Wenn jemand vom Verreisen redete, dann war ich das, ich wollt öfter mal mit ihm wegfahren, nur mal kurz, mit dem Auto, nach Salzburg, nach Wien, nach Prag. Nichts zu machen. Er hat mich immer auf später vertröstet. Später, wann ist das? Jetzt ist er tot.«
»Sie haben ihn sehr geliebt«, sagte Weber und entknotete endlich seine Beine.
»Ja«, sagte Evelin, überrascht von der Bemerkung, und beugte
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