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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sich nicht umzubringen. Ob er nicht einen Arzt brauche, fragte der Polizist, aber der Mann sagte, er sei kerngesund; dass es Momente gab, in denen er kurz davor war, sein Leben freiwillig zu beenden, habe andere Gründe. Und der Polizist wusste das.
    Diese Erzählungen von Polizeihauptmeister Xaver Hoferer, der selbst dazu beigetragen hatte, dass der Mann vorübergehend in der Hütte am Rabenkogl wohnen durfte, versorgten die Geschäfte und Wirtshäuser des Dorfes mit Gesprächsstoff, zumal der Mann bereits seit neun Monaten da oben war und keine Anstalten machte, wieder zu verschwinden. Viele fragten sich, wieso einer, der schon Gnome sah, überhaupt noch frei herumlaufen durfte. Niemand, nicht einmal Xaver Hoferer, hatte eine Ahnung davon, was der Mann die ganze Zeit da oben trieb, womit er sich beschäftigte und ob er nicht womöglich heimlich wilderte; was der zuständige Forstinspektor allerdings nicht bestätigen konnte.
    Sicher war nur, dass er alle zehn Tage ins Dorf kam, um Obst, Nudeln, Tee und Fleischkonserven einzukaufen und dabei mit niemandem länger als nötig redete; freundlich erwiderte er jeden Gruß und sagte in den Läden »Grüß Gott« und »Auf Wiedersehen«, mehr nicht. An Geld mangelte es ihm offensichtlich nicht. Sämtliche Versuche, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, scheiterten an seiner Einsilbigkeit. Immerhin verlieh die tiefe, wohltönende Stimme seiner wilden Erscheinung einen zusätzlichen Zauber, dem sich einige Frauen im Ort vom ersten Tag an nicht entziehen konnten. Den jungen Männern erschien er mehr und mehr unheimlich, und sie fühlten sich durch seine abweisende Art provoziert.
    Diesmal brauchte er noch Batterien für seinen Kassettenrecorder. Als er sie im Rucksack verfrachtet und bei der Verkäuferin bezahlt hatte, kamen ihm an der Tür des Radiogeschäfts zwei junge Männer entgegen, die ihm den Weg versperrten. »Jetztpassmalaufchef …« begann der eine, und der andere hob den Poncho hoch, um zu sehen, was der Mann auf dem Rücken trug. Bevor sie noch irgendetwas anderes tun oder sagen konnten, packte er die beiden an den Haaren und warf sie wie Puppen auf den Boden, wo sie verdattert liegen blieben. Er beugte sich über sie und sagte: »Ich will einfach nur allein sein, okay?« Dann nickte er der Verkäuferin zu, die vor Schreck einen Schrei ausgestoßen hatte, verließ das Geschäft und ging in Richtung Ortsende davon. Die beiden jungen Männer waren zu ratlos, um ihn zu verfolgen.
    Als er an einer Telefonzelle vorüberkam, ging er zunächst weiter, blieb dann stehen und drehte den Kopf. Seit die Häuschen nicht mehr gelb und auffällig waren wie früher, sondern grau und unauffällig, übersah er sie meistens. Er machte einen Schritt darauf zu und streckte schon die Hand nach der Tür aus, ehe er sich anders entschied und seinen Weg fortsetzte. Es nieselte immer noch, und er würde eine Stunde brauchen, bis er zurück in seiner Hütte war.
    Er hörte schon das Lied, das er als Erstes spielen würde, nachdem er die neuen Batterien in den Recorder eingelegt hätte. Und er fing an zu singen, nicht so klar und klingend wie Buffy, aber dem Regen war sein Gesang gewachsen. »I was an oak, now I’m a willow, now I can bend. And though I’ll never in my life see you again, still I stay until it’s time for you to go. Don’t ask why, don’t ask how, don’t ask forever, love me now …«
     
    Rossbaum und Gobert, Kommissare der Vermisstenstelle, verbrachten zwei Tage damit, mit der Straßenbahn von Haidhausen nach Grünwald und zurück zu fahren, von halb fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachts; zwischen zwölf und vier Uhr nachmittags schliefen sie in einem Zimmer nahe der Grünwalder Haltestelle, das sie in einer kleinen Pension angemietet hatten. Doch Raphael Vogel tauchte auf seiner Lieblingsstrecke nicht auf. Für die übrigen Mitglieder der Sonderkommission bedeutete die Tatsache, dass sich Raphael auch einen Tag nach seinem Verschwinden nicht gemeldet hatte und von keinem Zeugen gesehen worden war – abgesehen von der Giesinger Buchhändlerin, die sich jedoch zunehmend unsicher war, ob der Junge in dem roten Auto tatsächlich der Gesuchte war –, ununterbrochenen Telefondienst.
    Jede Person, die auch nur entfernt mit dem Ehepaar Vogel verwandt und bekannt war, egal, wo sie lebte oder sich zur Zeit aufhielt, wurde von den Polizisten angerufen und befragt; drei Ehepaare, mit denen die Vogels einmal einen Kurzurlaub in Rimini verbracht hatten, stöberten die

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