Die Erfindung des Abschieds /
nichts zu essen und zu trinken kriegt, wenn er nicht brav ist, und dass seine Mutter ihn in den Keller sperrt, wenn sie mit ihrem Freund allein sein will. Hast du das vergessen?«
»Nein«, sagte Oberfellner. Das Licht ging an, und man hörte Schritte aus dem dritten Stock. »Aber das ist nicht gut, was wir da machen …«
»Und jetzt ist auch noch sein Opa gestorben, und niemand kümmert sich um den Jungen, hast doch gesehen, wie er beieinander war. Jetzt verzieh dich nach Hause, und morgen sehen wir uns in der Arbeit wie immer, und wehe, du gehst zur Polizei, dann passiert was!«
Von oben kam ein bärtiger junger Mann; er trug eine schwarze Brille und hatte eine Aktenmappe in der Hand. »’n Abend«, sagte er und huschte an den beiden vorbei.
»Grüß Gott«, sagte Gustl und wartete, bis der Mann im Erdgeschoss war. »Ich überleg mir was, mir fällt schon was ein. Servus!«
»Und du glaubst wirklich, dass uns niemand gesehen hat?«, fragte Oberfellner und schlug den Kragen seiner speckigen Jacke hoch.
»Was denn sonst? Da wären die Bullen doch längst hier, wenn jemand was gemerkt hätte. Hat aber keiner.«
»Es ist trotzdem eine ganz heikle Sache, Gustl …«
Gustl hörte nicht mehr zu. Er schloss die Tür und sperrte ab. Oberfellner blieb nichts anderes übrig als zu verschwinden, bevor es finster im Treppenhaus wurde und er wieder stolperte und hinfiel, wie letzte Woche.
Unterdessen horchte Gustl an der Abstellkammer. Er hörte leises Stöhnen und gleichmäßige Atemzüge; da drinnen schlief ein hilfloses Wesen, und es war ein Glück, dass es an ihn geraten war, er würde es beschützen, was immer auch passierte, und niemand würde dem Jungen jemals wieder ein Leid zufügen. Dafür wollte er, August Emanuel Anz, gelernter Dreher, seit acht Jahren Arbeiter in der Städtischen Gärtnerei und Freund aller verlorenen Buben, gnadenlos kämpfen, und wenn es nicht anders ging, gegen die Polizei und den gesamten Staat und gegen die Eltern. Jedenfalls würde er sich diesen Jungen von niemandem mehr wegnehmen lassen; endlich hatte er einen wahren Freund, einen, auf den er immer gewartet hatte und dem er seine Liebe schenken konnte, die sein Leben lang unerfüllt in ihm gärte und nun reif war – für Raphael!
Zärtlich fuhr Gustl mit der rechten Hand über die Tür und streichelte dann seine linke Wange, als wäre es das Gesicht eines anderen.
6
Spezialisten der Nacht
E s nieselte, und es war gegen halb sechs Uhr abends, als eine wie ein Kind hüpfende Gestalt, bekleidet mit einem weiten wehenden Umhang und einer schwarzen, unter den Knien gebundenen Pluderhose, barfuß aus dem Wald kam und mit kräftiger Stimme jeden begrüßte, dem sie begegnete. Es war ein Mann mit dunkelblonden schulterlangen Haaren, mittelgroß und stämmig, mit einem wettergegerbten, von Bartresten übersäten Gesicht, in dem zwei grüne Augen funkelten. Seine Füße sprangen durch jede Pfütze, und auf seinem Rücken, bedeckt vom rotbraunen Poncho, hüpfte sein Rucksack auf und ab.
Offensichtlich war der Mann bester Laune.
Dagegen hielten ihn die Leute, die sich nach ihm umdrehten, für bescheuert. Sie wussten, dass er im Wald lebte und manchmal laut schrie oder sang. Kinder hatten ihn dabei beobachtet, wie er nackt vor der Hütte stand, in der er hauste, und ein Bein anhob und seine Arme in die Luft streckte; sie hatten die Polizei geholt, und der uniformierte Beamte aus dem Dorf hatte ihn ermahnt, sich nicht unbekleidet vor Kindern zu zeigen, da er sonst eine Anzeige bekäme und nicht länger in der Hütte bleiben dürfe. Daraufhin erklärte der Mann dem Polizisten, dass er sich nicht vor den Kindern ausgezogen habe, sondern vor der Natur, die kein verlogenes Schamgefühl kenne. Schamgefühl könne überhaupt nicht verlogen sein, erwiderte der Polizist, es sei ein Gefühl wie jedes andere und daher weder gut noch schlecht. Das leuchtete dem Mann ein, auch wenn er nicht von der Erkenntnis lassen wollte, dass die Leute moralisches Sehen für einen Wert hielten, den sie subjektiv je nach Gebrauch definierten und ausnutzten; wenn er eine Frau wäre, die nackt im Wald herumtanzte, würde kein Jäger, der zufällig vorbeikam, die Polizei rufen, sondern sich ausgiebig an dem Anblick weiden oder sonst was tun. Der Mann versprach, in Zukunft seinen Freund Asfur als Späher loszuschicken, bevor er sich entkleidete. Wer denn dieser Asfur sei, wollte der Polizist wissen, und der Mann erklärte ihm, das sei ein Gnom, der ihm dabei helfe,
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