Die Erfindung des Abschieds /
stellte energisch ihre Beine nebeneinander und krallte ihre Finger in die Oberschenkel. »Es ist nämlich schwer, dauernd mit einem Jungen allein zu sein, der braucht einen Mann, der braucht jemanden, mit dem er zum Fußball gehen oder fernsehen kann, wenn Sport kommt, ich interessier mich nicht für Sport, aber mein Sohn hat Freude dran, und die will ich ihm nicht nehmen. Ich möcht, dass mein Sohn Freude am Leben hat, verstehen Sie das? Ich möcht nicht, dass er traurig ist und blöde Sachen macht, Drogen nimmt und so Sachen oder Alkohol trinkt, das möcht ich nicht. Und ich will auch nicht dauernd allein sein, das ist schön, wenn Hans am Abend zu mir kommt, nach der Arbeit, und wenn er bloß vor der Glotze sitzt. Besser, als wenn er nicht da wär, das sag ich Ihnen! Ich will keine allein erziehende Mutter sein, das will ich nämlich nicht, das ist nicht gut für Buben, die brauchen einen Vater, oder wenigstens einen Mann, der da ist, und Hans ist für meinen Raphael da, und jetzt will ich, dass Sie den Raphael finden und ihn mir zurückbringen, Sie werden doch für so was bezahlt oder? Dass sie mein Kind wiederfinden. Sie sind doch bei der Polizei, da müssen Sie das doch schaffen. Bitte …«
»Wir werden Ihren Jungen finden, Frau Vogel, ganz bestimmt. Vielleicht kommt er ja sogar von alleine zurück«, sagte Sonja und beugte sich vor, um Kirstens Hand zu berühren. Doch Kirsten stand ruckartig auf, ging zum Ausguss, nahm ein leeres Glas, füllte es mit Leitungswasser und trank es in einem Zug aus. Sie zog die Schultern hoch, und Sonja sah, dass sie Schmerzen hatte, und sie wusste auch, dass es keinen Zweck hatte, sie noch einmal darauf anzusprechen. Sie kannte solche Frauen gut: So sehr sie von ihrem Mann auch gequält, misshandelt und verachtet wurden, sie hielten trotzdem zu ihm, und die Gründe waren nicht nur Angst, Mutlosigkeit oder die Unfähigkeit, sich zu trennen; sie verhielten sich wie Soldaten, die von ihrem Oberst in eine sinnlose Schlacht geschickt wurden und die nicht aufbegehrten, weil sie sich einem Ehrenkodex verpflichtet fühlten – einem Ehrenkodex, den niemand kannte, den niemand aussprach, von dem sie selbst nicht einmal genau wussten, was er bedeutete, und den sie doch befolgten wie ein heiliges Gesetz; für manche dieser Frauen endete die Hörigkeit nicht einmal mit dem Tod des Partners.
»Wir müssen noch mal über den Anruf reden«, sagte Weber, und Sonja war froh, dass ihm wieder eingefallen war, weswegen sie hier in der Küche saßen.
»Das haben wir doch schon«, sagte Kirsten, hielt sich die Hand flach auf den Bauch und füllte das Glas noch einmal.
»Ja, aber es ist doch klar, dass das sehr wichtig für uns ist, ob Raphael von einem Mann oder von einer Frau gesprochen hat. Gustl, hat er gesagt: der Gustl oder die Gustl, Frau Vogel?«
Wütend warf sie das Glas in den Ausguss, wo es klirrend zersprang. »Das weiß ich nicht mehr! Er hat Gustl gesagt. Er hat Gustl gesagt. Ich kenn keinen Gustl, weder einen Mann noch eine Frau, ich kenn keinen, warum kapieren Sie das nicht?«
»Gibt’s Probleme?«
Garbo stand plötzlich in der Tür.
»Kennen Sie einen Mann oder eine Frau namens Gustl?«, fragte Sonja, während Kirsten die Scherben im Ausguss anstarrte.
»Gustl?«, sagte Garbo, kratzte sich versonnen zwischen den Beinen, als befände sich dort sein Gedächtnis. Dann durchzuckte ihn ein Blitz. »Ja! Gustl Bayrhammer! Aber der ist schon tot.«
»Und sonst?«, fragte Sonja.
»Sonst nichts«, sagte er, ging zu Kirsten, küsste sie, die einen halben Kopf kleiner war als er, auf die Haare und sagte: »Kriegen wir schon wieder ins Lot, Vögelchen!«
Und sie schmiegte sich an ihn und fing an zu weinen. Es war das erste Mal, dass Sonja sie weinen sah. Und in der lähmenden Trübnis der Wohnung und des vergehenden Tages hielt sie das Beben dieses dürren Körpers, das immer heftiger wurde, für ein Signal von Lebendigkeit, vielleicht von Zuversicht.
Nach einigen spektakulären Vermisstenfällen während der vergangenen zwei Jahre, wobei das Schicksal der zweiundzwanzigjährigen Lucia Simon die Öffentlichkeit am meisten aufgewühlt hatte, brachten die Zeitungen die Geschichte des verschwundenen Raphael Vogel auf der ersten Seite; dazu ein Foto, eine genaue Beschreibung und einen Hinweis auf den roten Opel Kadett, den die Buchhändlerin in der Tegernseer Landstraße gesehen hatte. Eine Boulevardzeitung druckte zusätzlich ein Bild von Oberkriminalrat Karl Funkel, der mit
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