Die Erfindung des Abschieds /
Fahnder in Österreich, auf Kreta und an der Dalmatinischen Küste auf, eine frühere Freundin von Kirsten Vogel in einem Dorf in Brandenburg, wohin sie zu ihren Großeltern gezogen war, und eine Familie, mit deren Sohn Raphael in den ersten zwei Grundschulklassen eng befreundet war, im amerikanischen Detroit, wo der Vater jetzt als Manager einer Automobilfirma arbeitete.
Rund um die Uhr nahm der Bereitschaftsdienst Anrufe entgegen, verglich die Aussagen mit den bereits im Computer gespeicherten Daten und tippte die Ergänzungen ein, unabhängig davon, ob sie auf den ersten Blick einen Sinn ergaben oder nicht. Je mehr Informationen hereinkamen und je schneller sie ausgewertet und in einen logischen Zusammenhang gebracht wurden, desto eher bestand die Chance, ein Koordinatensystem von Fakten herzustellen, dessen Überschneidungspunkte schließlich Raphaels Weg und seinen momentanen Aufenthaltsort ergeben könnten. Könnten – und es, in diesem Fall, nicht taten.
Trotz intensiver Suche an den Orten, an denen sich junge Ausreißer normalerweise aufhielten – in Kaufhäusern, Elektromärkten, Billardsalons, Spielhallen, U-Bahnhöfen, in den Fußgängerzonen, im Englischen Garten und auf dem Gelände des Kunstparks Ost, wo es viele Hallen und Flohmärkte gab, die sich zum Untertauchen gut eigneten –, machten die Zivilfahnder nicht einen einzigen Jugendlichen ausfindig, der Raphael auch nur kannte; was die Polizisten zwar enttäuschte, aber nicht überraschte: Nach ihren Ermittlungen hatte sich der Junge bisher nicht herumgetrieben, sondern er war nach der Schule entweder sofort nach Hause gekommen oder zu seinem Großvater gegangen, der auf ihn aufpasste. Doch dass Eltern von den Freizeitgewohnheiten ihrer Kinder oft wenig Ahnung hatten, bewies jeder Vermisstenfall aufs Neue.
Auch die Recherchen bei den zuständigen Behörden in Berlin, dem beliebtesten Ziel junger Ausreißer, führten in eine Sackgasse. Da außerdem gerade Ferien waren, gelang es den Polizisten nicht, mit allen Klassenkameraden Raphaels zu sprechen und von ihnen Details zu erfahren, die außer ihnen vermutlich niemand kannte. So gut es ging, hatten Freya Epp, Sonja Feyerabend, Florian Nolte und drei ihrer Kollegen die Urlaubsorte einiger Eltern ausfindig gemacht, an die sich die Schulleiterin erinnern konnte, weil die Familien seit Jahren dort Ferien machten. Die Interviews brachten jedoch keine neuen Erkenntnisse, bestätigten vielmehr die bereits von mehreren Personen geäußerte Verwunderung darüber, dass der Junge nicht schon früher abgehauen war, nachdem er die Verhältnisse bei sich daheim immer wieder als unerträglich beschrieben und sogar angedeutet hatte, sich eines Tages zu rächen.
Und zwei- oder dreimal hatte er das auch bereits getan. Zwar behauptete die Mutter, ihr Sohn sei nur ein einziges Mal nicht nach Hause gekommen, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen, der Vater dagegen sagte, sein Sohn habe mindestens dreimal bei ihm und seiner Freundin Eva übernachtet, weil er es bei seiner apathischen Mutter nicht mehr ausgehalten habe. Für Karl Funkel stand noch lange nicht fest, wer hier die Wahrheit sagte. Vielleicht log Thomas Vogel, weil er sich als fürsorglicher Vater aufspielen wollte, und der Junge hatte sich in Wirklichkeit beim Großvater versteckt; was beide, Vater und Mutter, geärgert und gekränkt hatte, weshalb sie diese Tatsache einfach verdrängten und sich ihr eigenes familiäres Weltbild zurechtzimmerten.
Jetzt war Georg Vogel tot, und Raphael hatte niemanden mehr, bei dem er Unterschlupf finden konnte, niemanden, der mit ihm spielte und ihn ernst nahm. Die leere Wohnung seines Großvaters schien ihn allerdings nicht zu interessieren, Funkel ließ sie weiter, erfolglos, observieren.
In München liefen jedes Jahr etwa zweihundert Kinder von zu Hause weg, die meisten von ihnen nicht zum ersten Mal, und sie waren nach spätestens drei Tagen wieder da. Ein Fall wie der des neunjährigen Raphael jedoch, der unberechenbar war, getrieben von Trauer, voller Zorn auf seine Eltern, einsam und ohne Freunde, die sich in den Ferien vergnügten, gehörte für Oberkriminalrat Funkel zur Kategorie Super- GAU , und das hieß schlaflose Nächte für alle, Omnipräsenz des Dezernats und alle paar Stunden Fast Food und Kaffee.
Insgesamt hatten die Mitglieder der Soko mit achtundfünfzig Personen in fünf Ländern Kontakt aufgenommen und rund vierhundertfünfzig Telefongespräche geführt. Mittlerweile waren alle verfügbaren Angaben
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