Die Erfindung des Abschieds /
über Raphael – Alter, Größe, Schuhgröße, Besonderheiten im Aussehen (Narbe), Kleidung, Hobbys, Sprechweise, Spitzname (Raff, Raffi), Essgewohnheiten, Musikgeschmack (Mötley Crüe, Oasis) – in den Computersystemen der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes gespeichert, wo sie mit ähnlichen Fällen verglichen und, bezogen auf die biografischen Umstände im Zusammenhang mit Raphaels Verschwinden, neu bewertet wurden.
Es war in der Nacht zum dritten Tag nach Beginn der Suche. Die übermüdeten Frauen und Männer im Dezernat 11 aßen gerade die Plastikteller leer, die ihnen ein Kellner des türkischen Imbisses, der sich im Erdgeschoss des Polizeigebäudes befand, heraufgebracht hatte, als ein Mann mit dem Namen Hermann Ritter anrief. Paul Weber war am Telefon. Aber der Anrufer verlangte den Chef der Soko zu sprechen, dessen Bild er in der Zeitung gesehen hatte.
»Hier ist Funkel, mit wem spreche ich?«
»Ritter, Hermann. Ich weiß, wo der rote Opel Kadett steht.«
»Wo?«
»Ich will aber nicht, dass rauskommt, dass ich angerufen hab, sonst bringen die mich um. Die sind gefährlich.«
»Wo wohnen Sie, Herr Ritter?«
»Ich? Ich wohn in der Tulbeckstraße, Westend. Das ist aber nicht wichtig. Sie suchen doch den roten Kadett, oder haben Sie den schon gefunden?«
»Herr Ritter …«, sagte Funkel, schrieb den Namen und die Straße auf einen Zettel und schob diesen zwischen den Tassen zu Martin Heuer hinüber, der sofort zum Telefon griff, um sich von der Zentrale die Adresse bestätigen zu lassen. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns anrufen und uns helfen wollen, Sie wohnen also im Westend, und der rote Kadett, der steht auch dort, in der Nähe Ihrer Wohnung?«
Am anderen Ende herrschte Schweigen, dann hörte Funkel zwei dumpfe Schläge, als klopfe jemand gegen eine Glasscheibe.
»Herr Ritter?«
»Der rote Kadett steht in der Westendstraße 10, ein Mann ist ausgestiegen und ins Haus gegangen, und den Jungen hab ich auch gesehen, Raphael, stimmt’s? Die sind gefährlich, die bringen erst den Jungen um und dann mich, Westendstraße 10 …«
Wieder war ein dumpfer Schlag zu hören, diesmal fester.
»Herr Ritter?« Funkel warf Heuer einen Blick zu, und der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. Der Anrufer hatte also gelogen. Zumindest was seinen Namen anging. »Hallo!«
Die Leitung war tot. Hermann Ritter hatte aufgelegt oder eingehängt; Funkel ging davon aus, dass der Mann aus einer Telefonzelle angerufen und jemand ihn dabei gestört hatte. Er benachrichtigte die Funkstreife, und als er die Meldung erhielt, vor dem Haus in der Westendstraße 10 stehe tatsächlich ein roter Opel Kadett, der auf einen Gunter Blum zugelassen war, machte er sich gemeinsam mit Martin Heuer, Sonja Feyerabend und Volker Thon auf den Weg. Sie fuhren mit zwei Autos und waren in fünf Minuten vor Ort.
Dies war das zwölfte Mal, dass jemand anrief, der einen roten Opel beobachtet hatte, aber bisher hatte keiner der Fahrzeugbesitzer etwas mit dem Fall zu tun gehabt; genauso wenig wie diejenigen, die sich freiwillig gemeldet hatten, weil sie ein solches Auto fuhren; und möglicherweise hatte die Buchhändlerin in der Tegernseer Landstraße auch gar keinen Opel Kadett gesehen, sondern irgendein anderes rotes Auto; und obwohl sie sie extra ins Dezernat bestellt hatten, um ihr diverse Rottöne vorzuführen, die von Autoherstellern verwendet wurden, war sie nicht in der Lage gewesen, sich festzulegen, Zinnoberrot, Karminrot, Rosenrot, sie bemerkte den Unterschied, wusste aber nicht, welches Rot sie gesehen hatte.
Auf dem Klingelschild war kein Gunter Blum zu finden. Sie schauten an der Tür nebenan nach, aber dort gab es nur türkische Namen. Im Westend lebten mehr Ausländer als in jedem anderen Münchner Stadtteil, vor allem Türken, Griechen und Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es war ein Arbeiterviertel mit heruntergekommenen billigen Wohnungen, von denen einige in den letzten Jahren saniert und teuer weitervermietet oder verkauft worden waren; Lebensmittelläden, triste Kneipen, griechische und türkische Tavernen und aufpolierte bayerische Wirtshäuser reihten sich aneinander, und in vielen Hinterhöfen standen die Schuppen kleiner Autowerkstätten.
»Was wollen?«, fragte der grauhaarige Mann, der die Wohnungstür im Parterre öffnete, nachdem er die Polizisten ins Haus gelassen hatte.
»Wir suchen Gunter Blum, kennen Sie ihn?«, fragte Funkel.
»Polizei?«, fragte der Mann, der nur mit einem weißen,
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