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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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oder nicht.«
    »Ich weiß, dass du der Dezernatsleiter bist«, sagte sie und sah Heuer an, der seinen Kopf schief legte. »Du fährst bei mir mit, komm!«
    Als sie an dem Rumänen vorbeigingen, versetzte ihm Heuer einen weiteren Klaps auf den Hinterkopf, was Funkel mit einem finsteren Blick quittierte. »So ein wahnsinniges Arschloch!«, brummte Heuer.
    Der laute Schuss hatte sämtliche Nachbarn ans Fenster gelockt. Einer von ihnen war der Waschmaschinenvertreter Gunter Blum, den die Polizisten wenig später ins Dezernat brachten, wo er aussagte, dass er bis gestern auf Rügen gewesen sei, halb Urlaub, halb Geschäft, und von einem Jungen namens Raphael Vogel noch nie etwas gehört habe. Die Frage, ob er Hermann Ritter kenne, verneinte er. Er sei die meiste Zeit unterwegs und habe wenig Freunde, eigentlich gar keine, nur ein paar Kollegen, mit denen er manchmal einen saufen gehe. Funkel ließ ihn die Aussage unterschreiben und schickte ihn nach Hause.
    Also war Hermann Ritter einer der üblichen Trittbrettfahrer und Wichtigtuer gewesen, die in solchen Fällen immer auftauchten und die Fahnder in die Irre führten. Diesmal wäre wegen so einem Spinner beinahe ein Kommissar ums Leben gekommen, und Karl Funkel bemühte sich, dieser Vorstellung keinen Raum zu lassen. Statt endlich eine konkrete Spur zu finden, hatten sie einen illegalen Rumänen festgenommen, den man in Kürze in ein Flugzeug setzen und in seine Heimat ausfliegen würde, vorausgesetzt, Kollege Heuer erstattete keine Anzeige wegen versuchten Mordes; doch vermutlich hatte Heuer Recht, der Mann wollte nicht schießen, seine Angst hatte ihn überwältigt.
    Auf das weiße Din-A4-Blatt, das auf dem Schreibtisch vor ihm lag, schrieb Funkel mit rotem Kugelschreiber das Wort »Angst« und zog einen Kreis drumherum.
    »Angst, was ist das für dich?«, fragte er Volker Thon, der mit zwei Tassen dampfenden Kaffees hereinkam, die Tür mit dem Fuß zuschob und eine Tasse vor Funkel stellte.
    »Angst?«, sagte Thon, setzte sich auf einen der harten Bürostühle vor dem Schreibtisch und trank einen Schluck. Dann wärmte er seine Hände an der Tasse und schaute Funkel an. »Für mich ist Angst ein Urgefühl, wie Einsamkeit oder die Sehnsucht nach Liebe. Warum?«
    »Weil dieser Rumäne aus Angst unseren Martin erschossen hätte, ohne es zu wollen. Aus purer Angst.«
    »Ich weiß, Charly.«
    »Glaubst du, dass Tabor Süden sich versteckt, weil er mit seiner Angst nicht fertig wird?«
    »Darüber will ich nicht nachdenken, nicht im Moment«, sagte Thon. »Was ich will ist, dass er entweder seinen Dienst quittiert, endgültig, oder dass er suspendiert wird und wir einen neuen Mann einstellen können, den wir dringend brauchen.«
    »Er ist einer der besten Fahnder, den wir je hatten …«
    »Er ist egomanisch, und er hat einen Hang zum Okkultismus, und so was hat im Polizeidienst nichts verloren.«
    »Nein, er ist ein spiritueller Mensch, er sieht die Dinge manchmal anders als wir …«
    »Willst du ihn jetzt rausschmeißen oder nicht?«
    »Ich weiß es nicht, Volker, hilf mir dabei …«
    Sie tranken gleichzeitig und schauten in ihre Tassen, die voller schwarzem Schweigen waren.
     
    Aus der Dunkelheit schälte sich, je länger er in sie hineinstarrte, das vertraute Bild, das Gesicht und sein Lächeln, das Gesicht und seine Gegenwart, das Gesicht und seine Unsterblichkeit. Und wieder, wie so oft in diesen Nächten, fragte er sich, warum er nicht mitgegangen war, als es verschwand in jenem sauberen Zimmer, in das die Sonne schien. Warum schien die Sonne? Mit einem Ruck erhob er sich aus dem Sessel, blieb stehen, bückte sich und griff nach der Bierflasche. Trank sie aus und stellte sie auf den Holztisch, an dem er vorhin versucht hatte zu essen. Kurz vor Mitternacht. Sein Chef hatte ihn nach Hause geschickt mit der Anordnung, sich auszuschlafen und nicht vor zwölf Uhr am nächsten Tag wieder im Dezernat zu erscheinen. Ausschlafen! Seit seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag hatte er sich nicht mehr ausgeschlafen, seit fünf Jahren. Seit fünf Jahren stand auf einem Grabstein der Name Elfriede Weber, und wenn er Geduld hatte, der Name, und dem Regen trotzte, dem Hagel, dem Schnee und den Krallen der gewöhnlichen Zeit, würde er in einigen Jahren Gesellschaft bekommen vom Namen Paul Weber, vielleicht in weniger als fünf Jahren.
    In einer Schublade, die Elfriede mit Geschenkpapier ausgelegt hatte, bewahrte er seinen Siebenschüssigen auf, eine Rarität, die ihm ein

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