Die Erfindung des Jazz im Donbass
dort saßen und lagen, war schwer zu sagen. Die Feuer brannten bis zum Horizont, und die Stimmen vereinigten sich zu einem lauten Summen, wie auf einem Bahnhof. Mich beachtete niemand, vor Fremden fürchtete man sich hier offenbar nicht, die Kinder führten mich zu einem Feuer, ließen mich stehen und rannten weg. Um das Feuer standen Männer und unterhielten sich in einer asiatischen Sprache über mongolische Themen und ließen weder Gastfreundschaft noch Feindseligkeit erkennen. Ich entfernte mich von der Gruppe und schlenderte durch das Lager. Es war zu spüren, dass sie sich hier nur vorübergehend niedergelassen hatten: Die Sachen lagen verpackt und verschnürt, bei den Zelten waren Metallgeschirr und Holzmöbel, Spielzeug und Trommeln aufgestapelt, standen Fahrräder und Fahnen unbekannter Republiken. Der Boden um die Zelte war festgetrampelt, sie lagerten wohl schon ein paar Tage hier, wobei es für mich ein Geheimnis blieb, wie sie hergekommen waren und womit sie weiterwollten, denn ich sah keine Fahrzeuge, keine Busse oder Lastwagen. Nur Fahrräder. Im Vorbeilaufen warfen mir die Frauen kurze Blicke zu, wandten die Augen aber schnell wieder ab und gingen ihrer Wege. Manchmal tauchten Soldaten auf, Kämpfer einer bizarren Armee, in grauen Uniformen mit seltsamen Abzeichen. Auch die schenkten mir kaum Beachtung, blickten nur immer wieder besorgt zum Himmel oder auf die Uhr. Überhaupt herrschte im Lager große Anspannung, gerade so, als hätten alle schon gepackt und seien mit gut verschnürten Taschen und Koffern an den Bahnhof gekommen, wo sich der Zug aus irgendeinem Grund verspätete, aber gleich kommen musste, und inzwischen sind alle nervös und fangen an zu streiten, ohne sich groß von der Stelle zu rühren. Vor einem Zelt drängte sich eine ganze Horde dieser Nomaden – die Männer berieten sich, die Frauen stellten laute Fragen, die Kinder wuselten zwischen den Erwachsenen herum. Ein paar schwarzhäutige Jugendliche standen abseits und wagten nicht, näher zu kommen, Hunde beschnüffelten wachsam die Turnschuhe an den Füßen der Männer, etwas weiter standen zwei in grauer Militäruniform und ein paar Glatzköpfige in langen Gewändern, und alte Frauen in farbenfrohen Kleidern hielten Gras und Wurzelwerk in der Hand. Alle blickten aufmerksam auf den herabgelassenen Vorhang, der den Zelteingang verschloss. Eine Flamme flackerte im Fenster, und duftender Rauch stieg aus einer Öffnung in der Segeltuchplane des Zelts. Dort geschah etwas, zweifellos etwas Wichtiges, wovon vielleicht das Schicksal dieser ganzen Nomadenbruderschaft abhing. Ich drängelte mich näher heran, als man mich plötzlich anrief.
– Hey, – hörte ich. – Dich kenne ich.
Hinter mir stand Karolina. In grauem Tarnanzug und Springerstiefeln. Auf dem Kopf ein schwarzes Barett, unter dem ihre rotgefärbten Dreadlocks hervorquollen – stark und zuverlässig wie Schiffstaue. In der Hand hielt sie eine helle Taschenlampe, mit der sie mir gewissenlos die Augen blendete.
– Was machst du hier? – fragte sie.
– Und du?
– Ich arbeite hier.
– Und ich bin auf dem Heimweg.
– Schon lange?
– Schon lange. Hab den Zug verpasst. Bin den ganzen Tag gelaufen.
– Welchen Zug? – fragte Karolina spöttisch. – Hier gibt’s keine Eisenbahn.
– Echt?
– Mhm. Wie bist du hergekommen?
– Zufällig.
Sie schwieg eine Zeitlang, dann schaltete sie die Taschenlampe aus.
– Gut, – sagte sie, – komm mit.
Sie drehte sich um und lief durch das nächtliche Lager. Umrundete die Lagerfeuer, grüßte die Nomaden, winkte Bekannten zu. Vor einem großen Zelt, auf das mit der Schablone Kreuze und Buchstaben gemalt waren, hielt sie an.
– Tritt nicht mit dem Fuß auf die Schwelle, – sagte sie, drehte sich um und verschwand im Innern.
Im Zelt hängte sie ihre Lampe auf, und schwere süße Schatten krochen über die Wände. Es war geräumig und warm. Das Zelt war in zwei Hälften geteilt – links lagen ein paar Schlafsäcke, auf denen sich Pullover, Kleider und warme Armeesocken häuften. Die Sachen in der rechten Hälfte wirkten auf den ersten Blick zufällig: Sporttaschen, aus denen Handhobel, Tennisschläger und Sicheln ragten, akkurate Bücherstapel, Reste einer Bibliothek in verschiedenen Sprachen, vor allem klassische Literatur, Franzosen und Amerikaner, aber auch viel Esoterik, religiöse und kirchliche Bücher neben Kochratgebern und zerlesenen Reiseführern. Neben den Büchern befanden sich Elektrogeräte und
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