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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Gegenstände des sogenannten täglichen Gebrauchs – Bügeleisen, Radios, Tischlampen, deren Kabel unauflöslich verheddert waren, ein paar Sättel, Trensen, Rasierapparate, Kämme und Spiegel. Eine riesige Karte, mit grobem weißem Faden an die Wand genäht, war mit »Eurasien« überschrieben. Von Osten, von Tibet und den an China grenzenden Gebieten, von der Großen Mauer und Mesopotamien waren mit rotem Kugelschreiber Routen nach Westen gezogen, die bei Rostow zusammenliefen und weiter durch unsere Gegend führten. Die große Völkerwanderung, dachte ich und drehte mich zu Karolina um. Die stand mitten im Zelt neben dem Fernseher und beobachtete mich aufmerksam. Es war ein großer Schwarzweißfernseher. Am interessantesten war aber, dass er lief, allerdings zeigte er kein Bild, sondern füllte den Raum mit grauem, heimeligem Geflimmer.
    – Wie funktioniert der? – fragte ich verständnislos.
    – Mit Benzin, – erklärte Karolina. – Dort, hinter der Wand, steht ein kleiner Generator, damit läuft er. Nur dass unsere Antenne zu schwach ist, also zeigt er kein Bild.
    Sie streifte ihre Armeejacke ab, warf sie auf den Boden, fand einen warmen Strickpullover, zog ihn an und setzte sich auf die herumliegenden Schlafsäcke.
    – Na los, – sagte sie, nachdem sie es sich gemütlich gemacht hatte. – Erzähl.
    – Was sind das für Leute? – fragte ich.
    – Flüchtlinge, – erläuterte Karolina. – Mongolen, Tibeter, sogar Afrikaner sind dabei.
    – Und wohin fliehen sie?
    – Nach Westen.
    – Ist das denn erlaubt?
    – Natürlich nicht. – Sie zog eine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie mit Tabak, zündete sie an und lümmelte sich auf Kleider und Kissen. – Gäbe es uns nicht, wären sie alle längst zurückgeschickt worden.
    – Und wer seid ihr? – fragte ich für alle Fälle.
    – Eine EU -Mission, – erklärte Karolina und stieß klebrigen Rauch aus. – Wir überwachen die Einhaltung der Menschenrechte. Tatsächlich aber begleiten wir sie. Sonst hätte man sie längst erschlagen. Sie haben weder Papiere noch normale Namen. Überhaupt merkwürdig, diese Mongolen. Aber liebe Leutchen.
    – Wie kommt es, dass sie sich schon wieder nach Europa aufmachen?
    – Wie heißt du? Hermann?
    – Hermann.
    – Hermann, es sind Nomaden. Bewegung liegt ihnen im Blut. Aber gerade stecken wir fest. Schon eine Woche sind wir hier am Versauern.
    – Und was ist passiert?
    – Sibylle bekommt ihr Kind. – Karolina war jetzt ganz in Tabakwolken gehüllt. Ich trat näher und setzte mich vorsichtig neben sie. Sie reichte mir die Pfeife. Ich erinnerte mich an das Gebräu in ihrer Thermoskanne und lehnte dankend ab.
    – Und wer ist Sibylle?
    – Ihre Gesandte.
    – Wie das?
    – Also so was wie ihre Parlamentsabgeordnete, – erklärte Karolina. – Egal, jedenfalls eine offizielle Vertreterin. Sie folgen ihr und machen sich große Sorgen wegen dieser Schwangerschaft. Sie wollen nicht weiter, ehe nicht das Kind da ist, fürchten, die Ungarn lassen uns nicht durch. Also lagern sie hier und warten. Und wir mit ihnen.
    – Und wer ist der Vater?
    – Es gibt keinen Vater, – antwortete Karolina. – Sie haben überhaupt ganz eigene Sitten. Niemand weiß, wer der Vater ist, aber alle machen sich Sorgen. Das ist das Matriarchat, Hermann, – sagte sie und lachte belustigt. – Du musst in die Stadt? – fragte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.
    – Ja, wahrscheinlich.
    – Bleib über Nacht hier, – sagte sie. – Sobald Sibylle niedergekommen ist, geht’s los. Sie müssen vor Einbruch des Winters die Karpaten überqueren. Wir nehmen dich bis nach Hause mit.
    – Gut.
    – Hier, – sagte sie und holte aus einer Ecke einen warmen schwarzen Schlafsack, den sie mir zuwarf. – Darin kannst du schlafen. Und jetzt los, Zähne putzen.
    Sie holte aus einer Wandertasche Zahnpasta, steckte sich eine Zahnbürste in den Mund, stand auf und ging hinaus, wobei sie die noch warme Pfeife in die Knietasche stopfte. Ich hatte keine Zahnbürste, also folgte ich ihr mit leeren Händen.
    *
    Karolina tauchte unter der Zeltschnur durch, passierte das Feuer, das schon verlosch, und ging über das dunkle Stoppelfeld. Sie ließ das letzte Zelt hinter sich, vor dem ein paar Frauen in orangefarbenen Latzhosen und flauschigen Tüchern saßen, Gebetsketten durch die Finger laufen ließen und Filterzigaretten rauchten, und stieg den Hügel hinunter. Ihr grauer Pullover aus dicker Wolle beleuchtete warm den Weg, leicht schritt sie über die

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