Die Erfindung des Jazz im Donbass
Graue.
– Ich kann nur Anrufe von ihm empfangen. – Allmählich bekam Nikolaitsch seine Stimme in den Griff und sprach nun fester und mit mehr Sicherheit, wohl wissend, dass er keine Probleme bekommen würde, solange er seinen Anweisungen folgte. – Ich kann ihn nicht einfach so anrufen.
Dahinter konnte man das Unausgesprochene heraushören: hast selber Mist gebaut, nun löffel die Suppe aus und mach mir, fuck, nicht schon wieder Stress.
– Was also tun? – Der Graue war wohl nicht gewohnt zurückzustecken, also machte er auf denjenigen Druck, auf den er Druck machen konnte.
– Er wird heute anrufen, – sagte Nikolaitsch, nachdem er seine Gedanken beisammen hatte. – Um zwölf.
Dem Grauen zuckte die Hand mit der Uhr
– Das ist ja erst in fünfundvierzig Minuten? – sagte er ratlos. – Wollen wir so lange warten? – wandte er sich dem Versehrten zu, der unverhofft zum Herrn der Lage geworden war, von dem hier plötzlich alles abhing.
– Wir warten, – willigte Schura ein. Komm, – sagte er zu mir, – lass uns eine rauchen.
Er sprang auf den Asphalt, machte lässig einen Bogen um den Grauen und ging um das Gebäude herum, in Richtung Start- und Landebahn. Ich folgte ihm. Ernst, der sich zwischen dem Grauen und Nikolaitsch wiederfand, trat zunächst nervös auf der Stelle und lief uns dann unter Missachtung sämtlicher Regeln der Gastfreundschaft hinterher.
*
Das Gras entlang der Landebahn war gemäht und roch intensiv nach gestocktem Saft. Die Gebäude – dunkel und leer wie Küchengeschirr – standen geisterhaft in der Herbstvegetation, mitten im Mais, der von überall herandrängte und drohte, sämtliche Risse zu füllen, den Asphalt mit dürren Stengeln und scharfem Wurzelgeflecht zu durchbohren, in Fenster und Kanaldeckel zu kriechen, sich an den Mauern und auf die Blechdächer zu ranken und die Spuren sämtlicher Fliegergenerationen für immer zu vernichten. Von den Garagen trug der Wind den Geruch des sonnenerwärmten Motoröls heran, das sich in die Erde gefressen und sie taub gemacht hatte.
– Wer ist das? – fragte ich den Versehrten und deutete mit dem Blick hinter die Gebäude.
– Ihr Anwalt, – antwortete Schura. – Aus der Zentrale.
– Und dieser Wladlen Marlenowytsch oder Marlen Wladlenowitsch – wer ist das?
– Der Boss. Pastuschok Marlen Wladlenowitsch.
– Kennst du ihn?
– Nein. Er zeigt sich fast nie hier. Daher kennt ihn keiner. Aber alle haben Angst.
– Wie alt ist er? – fragte ich.
– Woher soll ich das wissen? – wunderte sich der Versehrte. – Es heißt, er sei ganz jung.
– Mit dem Anwalt ist irgendwas faul, – sagte ich und blickte noch einmal zu den Gebäuden zurück.
– Der Anwalt ist okay, – widersprach Schura. – Aber diese schwule Socke, der Glatzkopf, gefällt mir nicht. Dem trau ich alles zu.
Er schob seine Hände in die Jackentaschen und schlenderte die Landebahn entlang, wobei er mit seinen schweren Stiefeln leere Bierdosen kickte, die ihm unter die Füße kamen.
– Sag mal, – fragte ich Ernst, der sich in den alten Soldatenmantel verkroch. – Hast du eigentlich Artur gekannt, Tamilas Mann?
– Artur? – überlegte er. – Ja, habe ich. Ich hab sogar Geschäfte mit ihm gemacht. Wir sind allerdings aufgeflogen.
– Und wie haben er und Tamara zusammengelebt?
– Gut, – antwortete Ernst. – Aber nicht lange. Er hat sie wegen Tamila verlassen, ihrer Cousine.
– Wirklich?
– Na klar, – versicherte mir Ernst. – Das war eine große Sache! Sturm und Drang! Sie haben sich gegenseitig fast umgebracht. Tamila hat sich sogar die Venen aufgeschlitzt. Hast du gesehen, wie viele Dinger sie an ihren Armen trägt? Damit man die Narben nicht sieht. So an die zwei Jahre hatten sie keinen Kontakt, dann haben sie sich versöhnt.
– Ist er umgekommen?
– Artur? Nein, abgehauen. Nach Holland. Hat mit Autos gehandelt, ein Restaurant aufgemacht. Manchmal schreibt er ihnen. Beiden zusammen übrigens.
– Und woher weißt du das?
– Was? – Ernst verstand nicht.
– Na, das mit den Narben, und dass er schreibt.
– Ich war mal mit Tamila zusammen, – erklärte Ernst, – ein halbes Jahr lang. Dann wollte sie Kinder. Ich aber nicht: die Fliegerei, du verstehst schon.
– Wer hätte das gedacht, – wunderte ich mich. – So still, die beiden.
– Ja, Hermann, – stimmte er mir zu. – Das Leben ist überhaupt ein schwer verständlich Ding. Man weiß nie, was sich unter der Oberfläche versteckt. Da scheint dir,
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