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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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du wüsstest alles, hättest alles gesehen, aber wie es wirklich gewesen ist, kannst du dir nicht einmal vorstellen.
    Ich schaute mich um. In der Tat – wie war es wirklich gewesen?
    *
    Der zähe und harte Weizen, der hier jahrelang gewachsen war, störte beim Gehen, versperrte den Weg, so dass man bei jedem Schritt die dürren, ineinander verflochtenen Stengel auseinanderreißen musste. Sie näherten sich im Sonnenlicht, eine lärmende fröhliche Schar, und ihre Schatten liefen an ihren Füßen wie Jagdhunde. Einer nach dem anderen entstiegen sie den goldenen Sonnenwellen, der bitteren Oktoberluft – junge lächelnde Piloten in Lederhelmen und -jacken, mit braunen Kartentaschen und schweren Armbanduhren. Im Gehen riefen sie sich etwas zu, witzelten über einen längst vergangenen Vorfall, der sich gerade hier, auf diesem Flugplatz vor etwa zwanzig Jahren ereignet hatte, so dass alles vergessen und aus dem Gedächtnis gelöscht war und sie unbedingt wieder hier auftauchen mussten, um daran zu erinnern und davon zu erzählen. Die Ähren drangen in ihre Stiefel und Taschen, Spinnweben verflochten sich in ihre Finger und legten sich auf ihre Haare, sie schüttelten sie mit leichten Bewegungen ab und versuchten hartnäckig aus diesem unendlichen Weizen herauszukommen. Die Mechaniker in schwarzen Overalls, die ihnen folgten, trugen Leinensäcke mit Briefen und Paketen, Korrespondenz, die sie die ganze Zeit aufbewahrt hatten. Die Säcke reflektierten die Sonne mit grünem Feuer. Die Mechaniker lachten, hoben die Köpfe, guckten in das Oktoberloch des Porzellanhimmels und kniffen die Augen hinter ihren Sonnenbrillen leicht zusammen. Aber auch das waren noch nicht alle, dahinter, weit zurückgeblieben und ohne mit den Piloten mithalten zu können, rollte eine merkwürdige Mannschaft aus dem sonnigen Dunst einen Flugzeugkörper, den von Sonne und Staub orange gefärbten Rumpf einer AN - 2 , der in der Luft vor Metall und Farbe flimmerte. Sie rollten ihn schweißgebadet und vom Staub halb erstickt, wollten die Maschine aber für nichts in der Welt mitten im Feld stehen lassen.
    Die Piloten gingen über die Landebahn zu den leeren und hallenden Hangars, wo die dunkle Luft stand wie Flusswasser in einer Schleuse. Und als ihre Stimmen schon hinter den Gebäuden verschwunden waren, als die Mechaniker die Briefsäcke auf den Asphalt geworfen und sich in die Garagen zerstreut hatten, die sie mit Lachen und Rufen füllten, erreichten endlich auch die Letzten die Landebahn, rollten das Kastendrachen-Flugzeug aus dem dichten Weizen heraus und brachten es direkt gegenüber den Verwaltungsgebäuden zum Stehen. Die von der Sonne versengte Maschine, gänzlich von Gras und Spinnweben umhüllt, stand mitten auf der Landebahn, als ob sie sich nicht entscheiden könnte, wohin sie fliegen sollte, in welche Richtung, welche Route. Plötzlich kam aus dem dumpfen Inneren der Maschine ein hartnäckiges Scharren, als ob sich drin jemand an der Verkleidung entlangtastete und nach dem Ausgang suchte. Mit einem Knall flog die Kabinentür auf, und aus dem Flugzeug, aus der schwarzen erstickenden Tiefe sprangen rote Füchse und schwarze Katzen ins helle Sonnenlicht, flogen Tauben und Reiher, hüpften Wasserfrösche und prasselten Fledermäuse wie Birnen nieder. Und diese ganze fliegende hergelaufene Fauna, die sich an Bord versteckt und unter Hitze und Schwüle gelitten hatte, stob nach allen Seiten auseinander, weg von dieser Höllenmaschine, weg von all den Luftlöchern, die im grenznahen Himmel für ihre Tierseelen gegraben worden waren.
    *
    – Hermann, – der Versehrte berührte meine Schulter. – Kommst du?
    Der Graue und Nikolaitsch standen sich gegenüber wie Tänzer auf dem Parkett. Der Graue hatte sich vor dem kurzbeinigen Nikolaitsch aufgebaut und fauchte ihm gereizt etwas zu. Als wir näher kamen, verstummten sie.
    – Na, und? – fragte Schura.
    – Noch fünf Minuten, – antwortete der Graue. – Die können wir jetzt auch noch warten.
    – Okay, warten wir, – stimmte der Versehrte zu.
    Wir standen wortlos und zählten die Sekunden, vermieden es, den anderen in die Augen zu sehen, und betrachteten die Risse im Asphalt – tief wie Falten im Gesicht eines Clowns.
    Da klingelte Nikolaitschs Handy. Er holte es hastig aus der Tasche und legte es an das vor Aufregung verschwitzte Ohr.
    – Hallo! – sagte Nikolaitsch, viel zu laut für diese menschenleere Gegend. – Ja! Ja, Marlen Wladlenowitsch, er ist hier! Steht neben mir! Ja! Ich

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