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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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aufzuregen, beruhigte sich aber schnell wieder oder tat zumindest so, als habe sie sich beruhigt. – Na gut. Was ist es?
    Ich holte das Buch aus meiner Jackentasche, das mir Tamara gegeben hatte. Es war in graues Butterbrotpapier eingeschlagen. Die Seiten waren zerlesen und vergilbt, einige hatten sich ganz gelöst und fielen heraus. Es war offensichtlich, dass das Buch oft benutzt wurde und man nicht sehr sorgsam damit umging, es wurde immer wieder gelesen und wichtige Stellen mit Eselsohren markiert, man nahm es mit auf Reisen, ohne es je irgendwo zu vergessen. Es hatte einen seltsamen Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass . Ich blätterte in den vergilbten Seiten.
    – Keine Ahnung, – sagte ich, – ob das interessant ist. Vielleicht lesen wir doch lieber was über Buchhaltung?
    – Buchhaltung kotzt mich an, – sagte Olga. – Worum geht es in deinem Buch?
    – Um die Erfindung des Jazz. Im Donbass.
    – Gab es dort etwa Jazz? – wunderte sie sich.
    – Scheint so.
    – Na dann, – stimmte Olga zu. Aber fang in der Mitte an, dann ist es interessanter.
     
    Es war Mittagszeit, die Oktobersonne hing in den Apfelbaumblättern fest und ihre Strahlen bewegten sich über den Boden wie Schlingpflanzen im klaren Wasser. Ich dachte daran, dass Olga und ich schon einmal in einem Krankenzimmer gewesen waren, damals war es irgendwie unklar ausgegangen, vielmehr – es war überhaupt nicht ausgegangen, sondern dauerte bis heute und würde noch weiß Gott wie lange dauern. Olga machte es sich in den Krankenhauskissen bequem und schaute an mir vorbei, dorthin, wo langsame Apfelbaumschatten über die weiße Wand krochen.
    Also begann ich in der Mitte.
     
    Die Entwicklung des Jazz im Donezker Becken war traditionell von aufsehenerregenden Ereignissen und skandalösen Details begleitet. Offenbar sind gerade das Skandalträchtige und die extreme Unlogik der meisten dieser Ereignisse der Grund für das Fehlen von mehr oder weniger ernstzunehmenden Untersuchungen über das Entstehen des Jazz in den Industriegebieten im Süden des damaligen Russischen Reichs. Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist besonders seltsam und noch nicht restlos geklärt. Sie betrifft die bis heute wenig erforschten Gastspiele des Sister-Abraham-Quartetts im Frühling und Sommer 1914.   Aber die Erzählung kann natürlich nicht mit den Gastspielen selbst beginnen, sondern nur mit den Ereignissen, die ihnen vorausgingen. Sie haben sich in den methodistischen Kirchengemeinden Chicagos zugetragen. Eine der Chicagoer Methodistenkrichen betrieb eine Kantine für Obdachlose, die in enger Verbindung mit dem örtlichen Anarchist Black Cross stand, einer Wohltätigkeitsorganisation, die zur Unterstützung von inhaftierten Anarchisten, vor allem im zaristischen Russland, gegründet worden war. Das ABC sammelte Geld für die Verbannten, beauftragte Anwälte zur Verteidigung von Mitgliedern der anarchistischen Gruppen, verschickte Propagandamaterial nach Europa. In jener Kantine fand im Winter 1913 die Begegnung zweier ABC -Aktivisten, Vater und Sohn Shapiro, mit den schwarzhäutigen Schwestern Abrahams statt – Gloria und Sarah, die damals eng mit der Methodistenkirche zusammenarbeiteten und im Kirchenchor sangen.
    Gloria und Sarah Abrahams sind in die Geschichte des nordamerikanischen Jazz eingegangen, sie gehören zu den bekanntesten und originellsten Spirituals-Interpretinnen. Es ist in hohem Maße ihnen zu verdanken, dass sich die Spirituals aus dem rein konfessionellen, kirchlichen Milieu lösen und auf die große Bühne gelangen konnten. Die Shapiro-Familie war von Anfang an sehr an den Schwestern interessiert, weil sie deren Popularität für die Interessen der Partei nutzen wollte. Es erforderte viel Überredung, Drohungen und Bestechung, aber dann gelang es dem Ältesten der Familie, Lew Shapiro, die Schwestern zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Der Plan war einfach: Man würde im Süden des Russischen Reichs Gastpiele des Sister-Abrahams-Chors organisieren, im Industriegebiet Donbass, mit dem Ziel, unter den Arbeitern anarchistische Literatur zu verbreiten und den lokalen Anarchistenzirkeln große Summen Geldes zu übergeben, das für die Ausweitung ihrer revolutionären Tätigkeit bestimmt war. Zuerst hatten die Schwestern jede Möglichkeit der Zusammenarbeit mit anarchistischen Emigrantenkreisen weit von sich gewiesen. Lew Shapiro aber gelang es, die jüngere Schwester, Sarah, zu verführen, und aus Angst vor dem Kirchenbann

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