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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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die sie umgaben, stimmten sie Psalmen an. Die Matrosen wussten erst nicht, wie sie reagieren sollten, dann aber schlossen sie sich dem Chor an und fielen gedämpft in den Frauengesang ein. Bald darauf verzog sich der Nebel nach Westen, und die »Mesopotamia« konnte gefahrlos anlegen.
    Nach ein paar Tagen fuhr der Dampfer weiter. Die Zeit verging den Frauen in dauerndem Gesang und Gespräch. Die Schwestern hatten kaum Gepäck, nur Kleider zum Wechseln, Notenhefte und religiöse Schriften sowie zwei Taschen aus geteertem Segeltuch mit amerikanischen Dollars. Barbara und Maria, die jünger waren, fragten Gloria über die Orte aus, an die sie reisen sollten. Gloria antwortete, sie wisse selbst nicht viel, habe aber gehört, dass das Leben in den Städten, die ihr Ziel waren, sich stark vom Leben in den Vereinigten Staaten von Nordamerika unterschied. Die Frauen dort, so ihre Worte, sängen außergewöhnlich gut und verfügten über das absolute Gehör, und die Männer beherrschten fast alle ein Musikinstrument, und nur die übergroße soziale Ungleichheit und die grausame Ausbeutung der Mehrheit der Bevölkerung durch das kapitalistische Establishment verhindere, dass diese Männer und Frauen ihre Kunst zur Mehrung des Ruhms des Herrn vervollkommneten. Barbara und Maria freuten sich und konnten die Ankunft und ihre Auftritte in den fremden Ländern kaum erwarten, aber die jüngere der Abrahams-Sisters, Sarah, vertrug den Schiffsalltag schlecht, sie litt an Seekrankheit und absoluter, erschöpfender Schlaflosigkeit.
    Nachts strich sie durch das Schiff und geriet in Räume, an deren Existenz sich nicht einmal die Mannschaft erinnern konnte, drückte sich heimlich durch schwarze, eiserne Korridore, öffnete geheime Türen, hinter denen sich abgestandene Schiffsfinsternis verbarg. Sie fand die Phonographen-Fracht, holte diese seltsamen, komplizierten Apparate hervor, stellte sie um sich herum auf, ließ sie alle gleichzeitig laufen und versuchte, im Schwall der Geräusche und Gesänge den einen Rhythmus herauszuhören, flüchtig wie ein Lufthauch, der sie tief im Inneren des schwimmenden Metallherzens einschläfern würde. Sie holte frische Nadeln für die Phonographen, spitz und glänzend, stach sich damit in die Handflächen, und himbeerfarbenes Blut glänzte dunkel im Licht der Lampe, tropfte auf den Boden und lockte die schutzlosen Schiffsratten an. Eines Nachts, als sie fast bewusstlos vor Schlafmangel durch die Korridore irrte, stieß Sarah auf einen Frachtraum, den sie bisher noch nicht entdeckt hatte. Hinter der Tür war Raunen und Stöhnen zu hören, was ihr zuerst Angst einjagte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und öffnete die Tür. In dem mit schwarzem Eisen gepanzerten Raum drängten sich verängstigte Schafe. Aneinandergedrückt, ohne sich vom Fleck zu bewegen, blökten sie langgezogen in die Finsternis. Das Licht der Lampe kroch über sie und versenkte Funken in den tiefen Schafsaugen, und plötzlich sah Sarah, dass sie bis zu den Knien im Blut standen. Das Blut hatte den Boden überschwemmt und schien langsam, aber unaufhaltsam zu steigen, resigniert blickten die Schafe auf die Frau und versuchten nicht einmal, durch die geöffnete Tür zu entkommen. Überwältigt ließ Sarah sich zwischen den Schafen nieder, umarmte sie und sang ihnen Spirituals. Dort, zwischen den Schafen, wurde sie von Gloria gefunden, die am Morgen das Fehlen ihrer Schwester bemerkt und sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Sarah sang kaum hörbar, die Tränen flossen ihr über das Gesicht. Nachdem sie ihrer Schwester ein warmes schottisches Plaid um die Schultern gelegt hatte, führte Gloria sie zurück und legte sie ins Bett. Sarah schlummerte sofort ein und schlief ruhig und sorglos bis Liverpool.
    In Liverpool wurde der Dampfer festgesetzt und unter Quarantäne gestellt. Der Kapitän, ein alter bessarabischer Zigeuner, befahl, die gelbschwarze Quarantäneflagge zu hissen. Die Hafenärzte stellten bei vielen Mitgliedern der Mannschaft Syphilis fest, weshalb den Matrosen nahegelegt wurde, an Bord der »Mesopotamia« zu bleiben. Die Mannschaft saß in der Falle. Abends kamen die Frauen herauf an Deck und sangen den übel gelaunten Seeleuten stille, schwermütige Spirituals, so dass die Matrosenherzen entflammten, abrissen und in den Magen rutschten wie goldene Sterne in den smaragdenen Ozean. Die Matrosen deckten den Tisch, bewirteten die Frauen mit Schmuggelrum und beißendem türkischem Tabak und erzählten von ihren

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